Ein Blatt mit Wassertropfen

DPA/AFP/RALF HIRSCHBERGER

Gedanken für den Tag

Martin Schenk über das Vertrauen in die Welt rundum

"Vom Alltag der Weltbeziehungen". Martin Schenk ist Psychologe und Sozialexperte der Diakonie

Ich steige in den Aufzug. Jeder Mensch macht das einmal in 72 Stunden. Durchschnittlich. Ich bin nicht allein. Noch wer anderer fährt in den dritten Stock. Ich nicke. Der andere auch. Dann schauen wir aneinander vorbei. Ein unangenehmes Gefühl beschleicht mich. Soll ich etwas sagen? Ich sage nichts.

Im Fahrstuhl entsteht eine Öffentlichkeit, in der man anderen mit einem gewissen Grad an Desinteresse entgegentritt, ohne jedoch Missachtung zu signalisieren. Eine höfliche Nichtbeachtung ist das. Soziologe Georg Simmel hat das vor 100 Jahren schon kommen sehen: "Vor der Entwicklung der Omnibusse, der Eisenbahnen, der Tramway waren die Leute nicht in die Lage gekommen, lange Minuten oder gar Stunden sich gegenseitig ansehen zu müssen, ohne aneinander das Wort zu richten." Ohne die Leistung der Bekanntschaftsvermeidung gibt's keine Individualisierung. Ohne höfliche Nichtbeachtung gibt´s keine moderne Gesellschaft. Im Fahrstuhl entdeckt man das Gute am Nebeneinander.

Achtung und Wertschätzung bedeuten, in der Welt gesehen zu werden. Es geht im Kern um die Freiheit, über den eigenen Blick verfügen zu können. Für den Philosophen Philipp Pettit heißt deswegen auch "gerechte Freiheit", anderen auf Augenhöhe zu begegnen. Er schlägt hier den "Blickwechsel-Test" vor: sich ohne Grund zur Angst oder Ergebenheit in die Augen schauen zu können.

Wir erreichen den dritten Stock. Im Aufzug entdeckt man das Gute am Nebeneinander. Aber auch das Gegenteil, die Möglichkeit zu kommunizieren. Begegnungen im Fahrstuhl dauern schlicht zu lange, um die höfliche Nichtbeachtung aufrechterhalten zu können. Es ist ein ziemlicher Aufwand, sich in einer Begegnung nicht zu begegnen. Die Verlegenheit ist ein Störenfried im Nebeneinander, ein Hinweis auf unsere Beziehungsfähigkeit. Auf die Möglichkeit, den Blick zu heben.

Service

Kostenfreie Podcasts:
Gedanken für den Tag - XML
Gedanken für den Tag - iTunes

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Jason Beck alias "Chilly" Gonzales
Komponist/Komponistin: Ryuichi Sakamoto
Album: Room 29
Titel: The tearjerker returns/instr.
Untertitel: A song-cycle about a piano in a hotel room
Solist/Solistin: Chilly Gonzales
Ausführende: Kaiser Quartett
Länge: 03:32 min
Label: DG/Universal 4797010

weiteren Inhalt einblenden