Annie Ernaux

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"Trennen, Verbinden" von Annie Ernaux

"Trennen, Verbinden" von Annie Ernaux (Verleihung des Literaturnobelpreises am 10.12.). Es liest Marie-Luise Stockinger.

Am 10. Dezember wird in Stockholm der Nobelpreis für Literatur an die französische Schriftstellerin Annie Ernaux verliehen, für, so die Begründung, "ihren Mut und ihre klinische Scharfsinnigkeit, mit der sie die Wurzeln, Entfremdung und die kollektiven Zwänge persönlicher Erinnerungen aufdeckt".

Geschichte ist Rekonstruktion der Vergangenheit. Ein geschichtliches Bewusstsein existiert nicht im Augenblick, sondern in der Rückschau. Auch so genannte historische Ereignisse wie das Durchschneiden des Stacheldrahts an der österreichisch-ungarischen Grenze oder Neil Armstrongs erste Schritte im Staub des Mondes sind zuerst einmal das, was sie sind, Akte von hohem symbolischem Gehalt, deren historische Bedeutung sich nach einer gewissen Zeit herausstellt.

Ein einzelnes durchschnittliches Leben mag keine historische Bedeutung haben, doch es spielt sich natürlich in politischen, sozialen und kulturellen Kontexten ab, die zu Geschichte gerinnen. Man muss nur einmal sein Leben rekapitulieren, um zu begreifen, dass man, wenn auch nur als Partikel in einer Masse, Teil der Geschichte geworden ist. Die französische Schriftstellerin Annie Ernaux, Jahrgang 1940, schreibt in ihrem Buch "Die Jahre" nichts anderes nieder als das Protokoll ihres Lebens.

Und in Büchern wie "Erinnerung eines Mädchens", "Die Scham" oder "Eine Frau" vertieft sie sich in Unterkapitel dieses Protokolls. "Autofiktion" nennt sich dieses Verfahren, bei dem das eigene Leben literarisiert wird, aber nicht im Sinne einer Biografie, also einer Verkettung von Fakten, die in Summe ein Leben ausmachen; auch nicht im Sinne von Erinnerungen und damit einer losen Abfolge von Gedächtnisinhalten, sondern als die Geschichte eines Individuums als Teilelement von Zeit und Gesellschaft.

Annie Ernaux hat in ihren scheinbar so einfachen Büchern jenes Wesen erkundet, das als Kind lernt ICH zu sagen, sein Leben lang aber nicht mit Bestimmtheit zu definieren vermag, wer das ist, dieses ICH. Es ist ein Stück von etwas Größerem, das abbricht, mit anderen Stücken eine Zeit lang dahinrollt, scheinbar richtungslos, sich wieder mit etwas Größeren verbindet und am Schluss formlos in der Masse aufgeht.

Teil dieser Ichwerdung ist das Lesen. Lesen bietet die Möglichkeit, sich mit verschiedenen Personen zu identifizieren, gleichsam lesend deren Leben auszuprobieren. Einmal ein anderer oder eine andere sein zu können. Beim Lesen, so Annie Ernaux, lässt man zu, dass eine Stimme in unser Bewusstsein eindringt und unsere eigene Stimme ersetzt.
Geprägt von ihrer Herkunft aus der sogenannten Unterschicht und einer Jugend in einem Dorf in der Normandie wird Lesen für Annie Ernaux auch zur Möglichkeit, ihre soziale Klassenzugehörigkeit zu ändern.
Aufnahme: Kurt Reissnegger
Gestaltung: Peter Zimmermann

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Annie Ernaux: "Trennen, Verbinden"
Anlässlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur am 10. Dezember

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