Was bedeutet es, neu anzufangen?

1. Jänner 2023, 06:55

Vor einiger Zeit verbrachten wir als Familie ein Jahr in Coventry. Diese kleine Stadt in Mittelengland wurde 1940 schlagartig berühmt, als die deutsche Luftwaffe sie in der Nacht vom 14. auf den 15. November dem Erdboden gleich machte. In der Tat wurde die Stadt so vollständig vernichtet, dass die NS Propaganda dafür einen eigenen Ausdruck erfand: "coventrieren".

Was bedeutet es, neu anzufangen? Am Weihnachtstag desselben Jahres wurde der landesweite Weihnachtsgottesdienst aus der zerstörten mittelalterlichen Kathedrale von Coventry übertragen. Fotos aus diesen Tagen zeigen Probst Dick Howard inmitten der Trümmer, wie er die Menschen an die christliche Botschaft erinnert: Es sei wichtig, nach dem Krieg mit den ehemaligen Feinden an einer Welt zu bauen, die dem Wesen Jesu Christi entspräche.

Deshalb wurden hinter dem Altar der zerstörten Kathedrale die Worte "Father Forgive" in die Wand gemeißelt - "Vater, vergib". Die beiden Worte erinnern an das Gebet, das Jesus von Nazareth nach den biblischen Überlieferungen am Kreuz gebetet hat: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!" Die Abweichung von dem biblischen Zitat ist nicht zufällig: "Vater, vergib!" steht in der zerstörten Kathedrale von Coventry. Nicht: "Vater, vergib IHNEN!" Nur "Vater, vergib".

Durch diese kleine Änderung wird die tiefe, christliche Einsicht zum Ausdruck gebracht, dass nicht nur unsere Feinde auf Vergebung angewiesen sind, sondern auch wir selbst. Eine Erkenntnis übrigens, die weit über den Bereich des Religiösen hinausgeht: Es ist nicht so, dass nur die anderen böse sind - auch bei mir selber gibt es die negativen Seiten.

Was bedeutet es, neu anzufangen? Der anglikanische Theologe Miroslav Volf erlebte die Grauen der Jugoslawienkriege der 1990er hautnah mit und hat sein Leben der Frage gewidmet, wie Friede und Neuanfang zwischen Menschen überhaupt möglich sind. In seinem Hauptwerk "Von der Ausgrenzung zur Umarmung" kommt er zu dem Schluss, dass der Friede - im Großen wie im Kleinen - nur dann eine Chance hat, wenn bewusst wird, dass erstens der andere zur Gemeinschaft der Menschen gehört und zweitens wir selbst zur Gemeinschaft der Sünder. (Sie merken schon, umgekehrt fällt uns das leichter.)

In Coventry haben wir genau das erlebt: Seit mehreren Jahrzehnten wird dort jeden Tag Gott um Vergebung gebeten. Das ebenfalls im Krieg schwer getroffene deutsche Dresden wurde zur Partnerstadt Coventrys. Und aus drei Nägeln des eingestürzten mittelalterlichen Dachstuhls der Kathedrale wurde das berühmte "Cross of Nails" von Coventry und inspiriert davon eine weltweite Friedensbewegung. Persönlich waren wir erstaunt, wie freundlich uns die Menschen begegneten. Fast hatten wir das Gefühl, dass sich die Menschen besonders freuten, wenn sie hörten, dass wir aus Österreich kamen.

Was bedeutet es neu anzufangen? Die Ruine der alten Kathedrale von Coventry steht immer noch, architektonisch verbunden mit der neu errichteten Kathedrale - greifbares Zeugnis einer Theologie, die die Katastrophe ernst nimmt und dennoch den Neuanfang wagt. Und mitten drinnen im Zentrum der Zerstörung und im Herzen des Neuanfangs die Worte: Vater, vergib.

Sendereihe

• Zwischenruf

Gestaltung

• Brigitte Krautgartner