Tagebuch

ORF/URSULA HUMMEL-BERGER

Gedanken für den Tag

Der Jahresbeginn im Spiegel von Tagebüchern

In ihren Tagebüchern äußern sich Schriftstellerinnen, Künstler und Denkerinnen am persönlichsten, darum sind sie eine faszinierende Lektüre, findet Literaturkritiker Cornelius Hell

"Man sagt, Kinder haben noch Sinn für Wunder, später stumpfe man ab. - Unsinn. Das Kind nimmt die Dinge als Selbstverständlichkeiten, die meisten bleiben dabei stehen; nur ein alter Mensch, der denkt, wird sich des Wunderbaren bewusst."

Das schreibt Victor Klemperer am 1. Jänner 1942 in sein Tagebuch. Ich liebe diesen Eintrag, weil er aufräumt mit dem Kitsch, den man in der Weihnachtszeit noch immer von abgestumpften Erwachsenen zu hören bekommt, die sich von leuchtenden Kinderaugen ein bisschen Wunderglauben ausborgen wollen.

Vor allem aber bewundere ich Victor Klemperer, dass er mitten im Krieg und in seiner Situation zu dieser Beobachtung fähig ist. Klemperer war 1935 von den Nazis als Professor für Romanistik an der Technischen Universität Dresden in den Ruhestand versetzt und später zusammen mit einer Frau auch aus seinem Haus vertrieben worden; 1942 musste er längst schon den Judenstern tragen und durfte auch keine Bibliothek mehr betreten. In Hunger und Not und ständiger Angst vor der Gestapo schrieb er ein umfangreiches Tagebuch - auf losen Blättern, die er durch seine Frau bei einer befreundeten Ärztin verstecken ließ.

Heute sind die acht Bände seiner Tagebücher der Jahre 1933 bis 1945 mit ihrer Registrierung kleinster Details das umfangreichste Dokument der Alltagsgeschichte des Dritten Reiches, das wir haben. Immer wieder notierte Klemperer auch Beobachtungen zum Sprachgebrauch der Nationalsozialisten - nach 1945 waren sie der Grundstock für sein oft zitiertes Buch "Lingua Tertii Imperii" (Sprache des Dritten Reiches).

Und zwischen all dem kann Victor Klemperer am Jahresbeginn 1942 noch nachdenken über die Selbstverständlichkeiten und das Wunderbare. Mir wird zum Beginn des neuen Jahres bewusst, dass ich auch 2023 unweigerlich wieder um ein Jahr älter werde. Da kommt mir Klemperers Tagebuchsatz zu Hilfe und weist mich darauf hin, was ich mit zunehmendem Alter gewinnen kann: "Nur ein alter Mensch, der denkt, wird sich des Wunderbaren bewusst."

Service

Tagebücher von Samuel Johnson - zitiert nach: Gustav René Hocke: "Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten. Motive und Anthologie", Fischer Taschenbuch 2980
Susan Sontag, "Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964 - 1980", Carl Hanser Verlag, München 2013
"Victor Klemperer. Tagebücher 1942", herausgegeben von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Aufbau Taschenbuchverlag, Berlin 1999
Max Frisch, "Die Tagebücher 1946 -1949. 1966 -1971", Suhrkamp Verlag 1983
Imre Kertész, "Der Betrachter. Aufzeichnungen 1991 - 2001", Rowohlt Verlag 2016
Ilse Aichinger, "Kleist, Moos, Fasane", Fischer Taschenbuchverlag 1991
"Sándor Márai. Tagebücher 7. 1943 - 1944", ausgewählt und aus dem Ungarischen übersetzt von Christian Polzim, herausgegeben von Siegfried Heinrichs, Oberbaum Verlag 2001

Nietzsches Tagebuch und andere autobiographische Schriften. 1856 - 1861
Arthur Schnitzler Tagebuch 1879 - 1931

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Ludovico Einaudi
Gesamttitel: Nomadland / Original Filmmusik
Titel: Oltremare/instr.
Solist/Solistin: Ludovico Einaudi
Länge: 11:00 min
Label: Decca/Universal Promo

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