Nesthäkchen und die Tradition

10. Jänner 2023, 06:56

"Ja, mein Nesthäkchen lebt", schreibt Else Ury im Nachwort zu Band sieben der Nesthäkchen-Reihe und weiter: "Überall lebt es, wo ein Kind der Sonnenstrahl eines harmonischen Elternhauses ist."

Nesthäkchen, die Geschichte der Annemarie Braun, deren Leben in insgesamt zehn Bänden von der Vorschulzeit bis ins Alter als Großmutter erzählt wird, begründete Else Urys Berühmtheit. Mit dem 6. Band sollte eigentlich Schluss sein, doch die vielen Anfragen ihrer Leserinnen bewogen sie weiterzumachen. Sie befand sich damit innerhalb der bereits Tradition gewordenen Mädchen- und Backfischliteratur, die v.a. durch Emmy von Rohdens "Trotzkopf" im späten 19. Jh. begründet wurde.

Tradition ist in Bezug auf Nesthäkchen ein schillernder, ja heikler Begriff. Denn die gesellschaftlichen Muster von Weiblichkeit und Geschlechterrollen, die darin hochgehalten werden, forderten über die Jahrzehnte der Rezeption nicht selten Kritik heraus.

Zugleich vermitteln sie Sicherheit und Geborgenheit. Schon das Wort Nesthäkchen erzeugt das Gefühl, gut aufgehoben zu sein. Und das ist Annemarie Braun, obwohl sie ein Wildfang ist und als solcher nicht selten der "Korrektur" bedarf. Die Erziehungsmethoden, die dazu in der Familie Braun angewendet werden, sind zwar entschieden, doch immer liebevoll und kommen ohne Züchtigung aus. Andererseits wird Nesthäkchen selbst nie als böse, sondern als Kind mit großem Herzen und wachem Verstand dargestellt. Ihre eigenständige Persönlichkeit ist sympathisch und damit eine perfekte Identifikationsfigur. Man zwingt ihr zwar ein hohes Maß an Anpassung auf, versucht aber nie ihren Charakter zu brechen.

Was bewahrt sich Nesthäkchen, was lässt sie hinter sich? Als eine die Enkelin für ihre Bildung und Berufstätigkeit bewundernde Großmutter mahnt sie noch: "Hast du andres auch im Schädel, nett aussehen muss jedes Mädel."

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• Alexandra Mantler