Sitzender Arzt in der Notaufnahme

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Medizin und Gesundheit

Unser Gesundheitssystem implodiert

Es brennt an mehreren Ecken


Überlaufene Ambulanzen, Ärztemangel und Medikamentenengpässe - es scheint, als ob das Gesundheitssystem zurzeit an allen Ecken und Enden krankt. Glücklich all jene, die in einer Hausarztpraxis betreut werden, die, pensionsbedingt, noch nicht geschlossen hat. Die epidemiologische Entwicklung betrifft schließlich auch die medizinische Zunft: In knapp 10 Jahren wird die Hälfte aller niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte das Pensionsantrittsalter erreicht haben. Ein vorhersehbarer Engpass also, der mit den Absolventen der Medizinunis kaum zu bewältigen sein wird, zumal zahlreiche Anwärter gar nicht zum Studium zugelassen werden.

Zu wenig Nachwuchs wird ausgebildet

Hinzu kommt, so der Medizinjournalist und Buchautor Martin Rümmele: "Die Spitäler bilden zu wenige Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner aus. 2016 waren es noch 1.435. 2021 nur noch 1.229. Damit wird der Abgang aufgrund von Pensionierungen nicht kompensiert werden können."

Aus der Traum vom Traumberuf?

Zudem scheint der einstige Traumberuf für viele ausgeträumt zu sein. In den Spitälern klagen 75 Prozent der Mediziner über eine zu hohe Arbeitsbelastung. Dies führt, laut einer rezenten Umfrage der Ärztekammer, zu einer großen Unzufriedenheit und gesundheitlichen Problemen. Ganz abgesehen von der Gefahr erhöhter Fehleranfälligkeit von übermüdetem und überfordertem medizinischem Personal. Ähnliches gilt für die Arbeit in überfüllten Kassenordinationen.
Viele sehen sich daher nach Alternativen um. Fachkräfte wandern zunehmend vom öffentlichen Gesundheitssektor in den privaten Bereich ab. Während es in den Kliniken an Personal mangelt und Hausarztpraxen nicht nachbesetzt werden, öffnen zahlreiche Wahlarzt-Ordinationen ihre Pforten. "Nicht das Geld steht hier im Vordergrund, sondern die Lebensqualität", erläutert Stefan Ferenci. Die meisten würden in der Kassenordination mehr verdienen, als in einer Wahlarztpraxis. Hier könne man sich aber die nötige Zeit für die Patientinnen und Patienten nehmen und eine entsprechende Qualität anbieten.
Den Ärztemangel als Grund für die prekäre Lage zu nennen, sei daher verkürzt. "Das kann zwar in den kommenden Jahren schlagend werden, zurzeit geht es jedoch um fehlende Anreize, weiterhin im öffentlichen System zu bleiben. Auch in den Kliniken liegt es nicht nur am Gehalt, sondern vor allem an der mangelnden Wertschätzung."

Familienmedizin attraktiver machen

"Man spürt es im niedergelassenen Bereich, wenn die Spitäler überlastet sind", erklärt die niederösterreichische Allgemein- und Familienmedizinerin Susanne Rabady. Schließlich müssen Patientinnen und Patienten, die früh entlassen werden oder keine Behandlungstermine in den Krankenhäusern bekommen, in der Hausarztpraxis betreut werden. Eine herausfordernde Arbeit, die großes Know-How erfordert. "Hausärztlich tätig zu sein bedeutet nicht, von vielem ein bisschen zu verstehen, sondern die Zusammenhänge zu sehen und den Patienten, im wahrsten Sinn des Wortes, ganzheitlich zu betrachten." Da das Image der Familienmedizin innerhalb der ärztlichen Community nicht allzu hoch ist, da es sich nicht um "Spezialisten" handelt, ist auch der Anreiz für die junge Kollegenschaft nicht allzu groß.

Medikamente ausverkauft

Erschwerend hinzu kommt der derzeitige Medikamentenmangel. Viele Antibiotika wie die beliebte Kombination aus Amoxicillin und Clavulansäure, aber auch bestimmte Psychopharmaka oder Schmerz- und Fiebermedikamente sind nicht lieferbar. Engpässes an häufig verschriebenen Präparaten gab es schon früher. Bereits vor der Pandemie waren Anfang des Jahres 2020 über 800 Produkte nicht lieferbar. Als Hauptgrund wird jedoch die Globalisierung genannt, da aus Kostengründen die meisten Arzneimittel in asiatischen Ländern produziert werden. Selbst die Lagerung erfolgt meist im europäischen Ausland.

Jammern auf hohem Niveau?

Angesichts eines Gesundheitssystems, das zu den weltweit besten zählt. Auch die Ärztedichte ist im internationalen Vergleich, mit mehr als 5 Ärzten auf 1000 Einwohnern, hoch - bzw. noch hoch, angesichts einer eher ungünstigen Altersverteilung.
Ronny Tekal widmet sich mit seinen Gästen zu Beginn des Jahres der Frage, warum viele Ärztinnen und Ärzte dem öffentlichen Gesundheitssektor den Rücken kehren und wie sich die angespannte gesundheitliche Lage entschärfen lässt.

Reden auch Sie mit! Wir sind gespannt auf Ihre Fragen und Anregungen. Unsere Nummer: 0800/22 69 79, kostenlos aus ganz Österreich.

Wie schwierig ist es derzeit für Sie, einen Termin in einer Ambulanz oder einer Ordination zu bekommen?
Haben wir eine Mehr-Klassen-Medizin?
Sind Sie selber im Gesundheitswesen als Ärztin oder Arzt beschäftigt und sehen Verbesserungsmöglichkeiten?
Ist die medizinische Versorgung in Österreich, Ihrer Meinung nach, unterm Strich nach wie vor gut?

Service

Studiogast:

Dr. Stefan Ferenci
Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie
Obmann der Kurie angestellte Ärzte, 1. Vizepräsident der Ärztekammer für Wien
Weihburggasse 10-12
1010 Wien
Tel.: +43/1/51501 1255
E-Mail
Homepage

Am Telefon:

Dr. in Susanne Rabady
Ärztin für Allgemeinmedizin
Präsidentin der ÖGAM - Österreichische Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin
Leiterin Kompetenzzentrum Allgemein- und Familienmedizin an der Karl Landsteiner Privatuniversität
Tel: +43/2732/720 90 530
E-Mail
Homepage

Martin Rümmele
Medizin- und Wirtschaftsjournalist
Geschäftsführer HG Ampuls Verlag
Aichwaldseeweg 9
9582 Unteraichwald
Tel.: +43/4254/20 740
E-Mail
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Mag. pharm. Christof van Dellen
Präsidient der Landesstelle Vorarlberg der Österreichischen Apothekerkammer
Kurapotheke Schruns
Kirchplatz 24
6780 Schruns/Montafon
Tel.: +43/5574/43038
E-Mail
Homepage

Info-Links:

Österreichische Ärztekammer
Österreichische Gesellschaft für Allgemein- und Familienmedizin
Ärztekammer für Wien: Große Wiener Spitalsumfrage
ORF.at: Ärztemangel: Es fehlen 10 Prozent
Ärztekammer Steiermark: Rezepte gegen den Ärztemangel
Die Presse: Umfrage: Drei Viertel der Wiener Spitalsärzte mit hoher Arbeitsbelastung
ORF.at: Ärzte und Gesundheitsverbund im Clinch
SV: Traumjob Landarzt? Untersuchung zur Motivation für oder gegen die Übernahme einer Kassenstelle für Allgemeinmedizin in ländlichen Regionen
Landarztstipendium Niederösterreich
AGES: Arzneimittel und Lieferengpässe
ORF.at: Wahlärzte und "Susi-Sorglos-Paket"

Buch-Tipps:

Rudolf Likar, Georg Pinter, Ferdinand Waldenberger, Herbert Janig, "Im kranken Haus: Ärzte behandeln das Gesundheitssystem", Ueberreuter 2020

Günther Loewit, "7 Milliarden für nichts: Ein Landarzt rechnet mit dem Gesundheitssystem ab", edition a 2020

Sâra D. Aytaç, "Ausgeblutet: Als Ärztin im Schockraum unseres maroden Gesundheitssystems", Lübbe 2022

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