Zwischenruf

Der Mensch - im Grunde gut

In Krisenzeiten kommt die gute Seite des Menschen zum Vorschein, meint Stefan Schröckenfuchs, Superintendent der evangelisch-methodistischen Kirche in Österreich

Neulich hat ein Gemeindemitglied bei mir ihr Herz ausgeschüttet: "Herr Pastor, ich mag gar nicht mehr die Nachrichten anschauen. Man hört nur von Krieg, Mord und Totschlag. Sind die Menschen denn alle böse, egoistisch und gewalttätig?"

Dass der Mensch grundsätzlich egoistisch veranlagt und rasch zu aggressivem Handeln bereit sei, ist eine weit verbreitete Meinung. Der Fassadentheorie zufolge umgibt das menschliche Verhalten nur eine dünne moralische Fassade, die durch Kultur und Zivilisation entstanden ist, und die seine egoistische und destruktive Grundnatur überdeckt. In Krisenzeiten, wenn Menschen unter emotionalem Druck stehen, bricht diese Fassade leicht zusammen, und die böse Grundnatur gewinnt Oberhand, so die Theorie.

Mir leuchtet allerdings nicht ein, dass die Gattung Homo Sapiens sich so erfolgreich entwickelt hat, obwohl sie doch angeblich aus selbstsüchtigen Individuen bestehen soll, die sich am liebsten gegenseitig totschlagen, und die diese Neigung nur mit großer Selbstbeherrschung unterdrücken. Der entscheidende Faktor in der Entwicklung der Menschheit war vielmehr seine Fähigkeit zu einem vertrauensvollen Miteinander und der Bereitschaft zur Kooperation.

Dass man vom Menschen besser denken sollte, dafür wirbt auch der niederländische Historiker und Denker Rutger Bregman in seinem Buch "Im Grunde gut" . Gerade in Krisensituation komme in der Regel eher die kooperative und fürsorgliche Seite des Menschen zum Vorschein. Diese These begründet Bregman mit unzähligen Beispielen aus der Psychologie, Ökonomie, Biologie, Archäologie und der Geschichte:
Als London während des Zweiten Weltkriegs neun Monate lang von der deutschen Luftwaffe bombardiert wurde, brach nicht - wie deutsche Kriegsstrategen erwartet hatten - Massenpanik aus, und es gab keine Gewaltexzesse in der Bevölkerung. Wissenschaftliche Studien zu jener Zeit belegen das Gegenteil: Die Bevölkerung Londons hat mit gegenseitiger Hilfsbereitschaft, Gelassenheit und einer guten Portion Humor reagiert.

Ähnliches war 2005 zu beobachten, als die Deiche von New Orleans in Folge des Hurrikans Katrina brachen, und 80% der Stadt überflutet wurden. Polizei, Politik und Presse gingen davon aus, dass die Stadt in Anarchie abgleiten würde. Monate später wurde das soziale Verhalten der Menschen vom "Disaster Research Center" der Universität von Delaware wissenschaftlich erforscht. Das Ergebnis: Die überwältigende Mehrheit des spontanen Verhaltens war prosozial geprägt. In New Orleans hatten sich nicht Egoismus und Anarchie durchgesetzt, sondern Mut und Nächstenliebe.

Bregman führt viele weitere Belege an, die ihn zu der Überzeugung führen: Der Mensch ist "im Grunde gut". Und er plädiert dafür, sich von diesem positiven Menschenbild leiten zu lassen. Dem stimme ich von Herzen zu. Die überwältigende Mehrheit der Menschen, denen ich begegne, erlebe ich als grundsätzlich hilfsbereit, solidarisch und mitfühlend. Gestört wird das solidarische Miteinander meiner Erfahrung nach gerade durch das Vorurteil, andere wären nicht in derselben Weise hilfsbereit und entgegenkommend, wie ich es bin. Darum wäre es folglich klüger, dem inneren Antrieb zur Hilfsbereitschaft nicht zu folgen.

Ich glaube, wir tun gut daran, anderen zuzutrauen, dass sie im Grunde gut sind. Denn durch dieses Zutrauen bekommen sie die Chance, genau das auch zu zeigen.

Service

Rutger Bregman, "Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit", Rowohlt Verlag

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Arvo Pärt
Titel: Fratres - für Violine und Klavier
Solist/Solistin: Gidon Kremer /Violine
Solist/Solistin: Keith Jarrett /Klavier
Länge: 11:27 min
Label: ECM 8177642 1275

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