Sölle und die Akkordarbeiterin

21. April 2023, 06:56

"Gott ist nicht im Himmel, er hängt am Kreuz." Und: "Eine fünfzigjährige Akkordarbeiterin hängt nicht weniger am Kreuz als Jesus, nur länger."

Zwei Sätze, die die Christologie - die Lehre von Jesus Christus der evangelischen Theologin Dorothee Sölle - auf den Punkt bringen.

"Eine fünfzigjährige Akkordarbeiterin hängt nicht weniger am Kreuz als Jesus, nur länger." Mit diesem Satz lenkt Sölle den Blick auf die Opfer von Ungerechtigkeit und Gewalt. Gott steht auf ihrer Seite, ist einer von ihnen.

Eine Theologie, die im Leiden Heil sieht, die Leiden überhöht und verklärt, lehnt Dorothee Sölle ab. Genauso lehnt sie es ab, Leiden zu verdrängen. Das scheint mir heute, in einer Gesellschaft, in der ein schmerzfreies Leben zum Ideal geworden ist, besonders bedenkenswert.

Dorothee Sölle kritisiert eine "christliche Apathie". Damit meint sie: "Jesus wird von Leidenszügen wie Zittern, Agonie und Todesangst gleichsam entkleidet und zu einem heroischen Wesen gemacht. Weil Leiden der Vollkommenheit Gottes widerspricht."

Diese christliche Apathie trifft heute auf eine Gesellschaft, in der es gilt, sich gegen Leiden um jeden Preis abzusichern. Der Preis der Verdrängung von Leiden ist für Sölle Teilnahmslosigkeit: "Die Illusion der Schmerzlosigkeit zerstört Menschen bis in ihre Wahrnehmungsorgane hinein", schreibt sie. Die Unfähigkeit zu leiden und sich vom Leiden anderer anrühren zu lassen, lähmt. Sie führt in die Beziehungslosigkeit, ins "Sichabfinden" mit Ungerechtigkeit.

Dass wir uns ein Leben ohne Leiden wünschen, das finde ich verständlich. Wünsche ich mir auch. Und ich denke nicht, dass Sinn im Leiden liegt. Aber wer Leiden nicht sehen will, der sieht auch die Menschen, die leiden, nicht. Vergisst sie, lässt sie allein. Gott sieht die Menschen, die leiden. Er gehört zu ihnen. Denn, um noch einmal Dorothee Sölle zu zitieren: "Gott ist nicht im Himmel, er hängt am Kreuz."

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• Alexandra Mantler