Sarah Kirsch und die Sinnsuche

3. Mai 2023, 06:57

Es beginnt mit der äußerst genauen Wahrnehmung eines Details. Mit dem genauen Bedenken, wie es aussieht, welche Empfindung es auslöst.

Man erkennt diese Details, die die Lyrikerin Sarah Kirsch in ihren Gedichten beschrieben hat, man erkennt die Landschaft, hört den Wind und das Wasser, sieht den Himmel. Doch dabei bleibt es nicht. Bald merkt man beim aufmerksamen Lesen oder Zuhören Verfremdungen, Verschiebungen. Ins scheinbar Reale schiebt sich zum Beispiel kunstvoll das Märchen oder das Raunen aus einer Welt, in der auch Zaubersprüche ihre Wirkung tun.

In solchen "vernetzten Kraftfeldern entstehen die geheimen Spannungen, die als Vibrationen wahrnehmbar sind, auch wenn sie nicht verbal auszumachen sind", hat 1992 anerkennend der Dichter Wulf Kirsten in einer Rede gesagt. Kirsten liest ihre Gedichte als "Sinnsuche, die ständig auf Grenzerweiterung" aus ist.

Es ist nicht einfach zu beschreiben, wie Sarah Kirsch das durch das Setzen der Worte macht, es wirkt so leicht und verlangt doch präzise Arbeit mit der Sprache. Auf einmal wird in einem Detail, einer konkreten Wahrnehmung, viel mehr angesprochen und, ja, auch in Frage gestellt, klingen persönliche, existentielle Verhältnisse ebenso an wie politische, werden sichtbar und vor allem auch fragwürdig.

Man muss nur genau hinsehen, dann sieht man die Risse im vermeintlich sicheren Boden.

Wie etwa in "Anziehung", dem Motto der "Zaubersprüche":
"Nebel zieht auf, das Wetter schlägt um. Der Mond versammelt Wolken im Kreis. Das Eis auf dem See hat Risse und reibt sich. Komm über den See."

Service

Wulf Kirsten: "Die Welt ist ein Gehöft im Winter". Rede auf Sarah Kirsch zur Verleihung der Ehrengabe der Heine-Gesellschaft 1992
Sarah Kirsch, "Zaubersprüche", Verlag Langewiesche-Brandt

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler