Zwischenruf

"Schuld"

von Martin Lintner, Moraltheologe in Brixen

In meiner Dissertation habe ich mich mit dem Thema des Schenkens auseinandergesetzt. Dabei fand ich spannend, dass die Dynamik des Schenkens auch mit Schuld und Abhängigkeit zu tun hat. Wenn mir jemand etwas schenkt, dann stehe ich in seiner oder ihrer Schuld, solange ich mich nicht revanchiere. Geschenke verbinden, aber Schuld bindet.

Auf der psychischen oder moralischen Ebene verhält es sich ähnlich. Schuld bindet. Wenn mir jemand Unrecht getan hat, dann ärgere ich mich über diese Person, ich muss wiederholt an sie denken, es nagt an mir, sie bestimmt negativ mein Befinden. Vergeben können wirkt dann wie eine Befreiung von dieser Person. Manchmal ist Vergebung ein Akt der Psychohygiene. Ich gestehe einer anderen Person nicht zu, dass sie Macht über mein Befinden hat.

Viele Menschen leiden unter Schuldgefühlen, wenn jemand stirbt, der ihnen nahestand. Sie erinnern sich an Konfliktsituationen, die nicht aufgearbeitet worden sind, an einen Streit, der nicht bereinigt worden ist, an ein liebloses Wort, für das nicht um Vergebung gebeten wurde. In persönlichen Gesprächen rate ich, das Grab der verstorbenen Person zu besuchen, als Geschenk eine Kerze oder einen Blumenstrauß mitzubringen und in der Stille des Herzens Zwiesprache zu halten: auszusprechen, was man zu ihren Lebezeiten nicht gesagt hat, um Vergebung zu bitten und auch selbst zu vergeben.

Es gibt aber auch belastende Schuldgefühle und quälende Fragen, die keine konkrete Ursache haben: Habe ich genug für den Verstorbenen getan? Hätte ich mehr tun und aufmerksamer sein können? Diese Fragen stellen sich auch Menschen, die in der Begleitung und Betreuung des Verstorbenen während der Krankheit oder letzten Lebensphase bis an ihre Grenzen, oft sogar über ihre Grenzen, gegangen sind. Solche Schuldgefühle sind nicht Ausdruck von moralischer Schuld, auch wenn es sich auf der Gefühlsebene gleich anfühlen mag. Diese Schuldgefühle sind vielmehr Ausdruck der Bindung an einen Menschen.

Bei der Trauerbegleiterin und Theologin Chris Paul habe ich folgenden Satz gefunden: "Schuldzuweisungen und Selbstbezichtigungen können beim Erleben von Einsamkeit und Getrenntheit als Bindungsfaktor benutzt werden, um emotionale Intensität und innere Verbundenheit mit einem Menschen aufrecht zu erhalten." Und sie schreibt weiter: "Schuld kann als Metaebene auch dann konstruiert werden, wenn Bindungen aufrechterhalten werden sollen, in denen Verbindendes wie ein gemeinsamer Alltag, gemeinsame Ziele, regelmäßiger Austausch und positive Gefühle wie Liebe, Zärtlichkeit, Fürsorge, Freude, Dankbarkeit momentan oder dauerhaft nicht zugänglich und lebbar sind."

Ich glaube, es ist wichtig, dass ich gut in mich hineinhöre, wenn ich Schuldgefühle empfinde. Dann kann ich unterscheiden, ob mich ein Schuldgefühl zu Versöhnung drängt oder ob es mich an jemanden bindet, obwohl es mir nicht guttut. Oder ich kann spüren, dass ein Schuldgefühl Ausdruck dafür ist, wie wichtig mir jemand ist. Dann kann ich ein quälendes Schuldgefühl umwandeln in Gefühle der Dankbarkeit, Fürsorge und Liebe.

Service

Vortrag Chris Paul

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Keith Jarrett
Album: DARK INTERVALS
Titel: Parallels/instr./live
Solist/Solistin: Keith Jarrett /Piano
Länge: 04:58 min
Label: ECM 1379 / 8373422

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