Menschenmüde, surreal

19. September 2023, 06:57

"Manchmal bin ich's müde, Mensch zu sein./ Manchmal trete ich in Schneidereien, Kinos,/ schlaff und unergründlich wie ein Schwan aus Filz,/ der durchs Wasser zieht: durch Ursprung, Asche" - der Überdruss am Leben, ja an der eigenen Spezies, kann einen, so wie den chilenischen Dichter Pablo Neruda in seinem Poem mit dem Titel "Walking around", ganz plötzlich überkommen.

Ob unter fernen Palmen oder in der Großstadt, das spielt dabei keine Rolle - so auch in Nerudas Fall, der in den 1920er Jahren als Konsul in Südostasien und Buenos Aires zahllose Gedichte über die Verlorenheit des modernen Menschen verfasst. Im Bild des Filzschwans bündelt der Dichter das Gefühl eines Ichs, das sich gegenüber dem Außen imprägniert hat, undurchdringlich geworden ist - und zugleich doch permanent überreizt daherkommt. Ob im Friseursalon oder im Fahrstuhl, ständig bricht es in Tränen oder Geschrei aus oder hängt Gewaltfantasien nach.

In surrealen Szenen hat Neruda dieses Leiden des modernen Menschen an der Welt übersetzt, wenn plötzlich Knochen aus Spitalfenstern fliegen oder Kleidungsstücke auf einer Wäscheleine nicht einfach tropfen, sondern "schmutzige Tränen weinen". Seltsam menschenleer ist diese namenlose Stadt Nerudas, in der die Dinge selbst sprechen und sich im Durchgang durch die Augen und die Psyche des Ichs verwandeln.

Diese Sur-Realität des Gedichts ist uns fremd und zugleich vertraut, weil auch wir selbst die Welt nie neutral sehen, unsere Wahrnehmung stets von Emotionen und Unbewusstem durchdrungen ist. Und deshalb, so Neruda im gleichen Gedicht, "brennt der Montag wie das Erdöl, /sieht er mich mit meiner Kerkerfratze, / und er jault in seinem Lauf, ein wundes Rad, /und er wandert heißen Bluts in Richtung Nacht."

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Sendereihe

• Gedanken für den Tag

Gestaltung

• Alexandra Mantler