Schwieriges Schweigen

20. September 2023, 06:57

Die Liebe und die Natur, so schrieb der chilenische Poet Pablo Neruda, seien früh die Grundelemente seiner Dichtung gewesen. Schon als junger Autor veröffentlichte er mit seinem Band "20 Liebesgedichte und ein verzweifeltes Lied" einen Klassiker spanischsprachiger Liebeslyrik. Zur Wahrheit des Literaturnobelpreisträgers gehört aber auch, dass der Barde der großen Gefühle in eigenen Liebesdingen kein Ruhmesblatt vorzuweisen hatte. Seine erste von drei Ehefrauen ließ er allein mit der gemeinsamen behinderten Tochter zurück, in seinen Memoiren findet sich gar eine Passage, die eine mutmaßliche Vergewaltigung einer Hausangestellten zu seiner Zeit als Konsul in Südostasien nahelegt.

Es sind solche Dinge, die heute gegen den Dichter verwendet werden und zugleich eine für die Künste insgesamt relevante Frage aufwerfen: Wer bleibt in einem Kultur-Kanon am Ende noch übrig, wenn die charakterliche Tadellosigkeit der Künstlerinnen und Künstler zum wichtigsten Maßstab wird? Was das im Falle Nerudas heißt, lässt sich erkennen, wenn auf feministischen Demonstrationen etwa ein Vers aus einem seiner bekanntesten Liebesgedichte angeklagt wird: "Ich mag es, wenn du schweigst, als wärst du in der Ferne".

"Schweig du, Neruda", war auf den Plakaten als Antwort zu lesen. Dabei geht es doch in Nerudas Liebesgedichten gerade darum, das Gewicht der Worte und des Schweigens in der Liebe zu erfassen, wo jede Silbe bedeutungsschwanger ist und jede Sprachverweigerung als Drama erlebt wird. Es geht mit einem Wort um universelle Menschheitsempfindungen, in denen sich Lesende zu jeder Zeit wiederfinden - das Vermögen vorausgesetzt, zwischen Werk und Autorleben (bei aller nötigen Kritik) noch trennen zu wollen.

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Gestaltung

• Alexandra Mantler