Liebst du mich, dann lies für mich

16. Oktober 2023, 06:57

Vielleicht wollte ich immer Schriftstellerin werden, weil mir das Vorlesen so viel bedeutet. Sehr frühe meiner Kindheitserinnerungen beziehen sich auf Bücher.

Manche kann ich nicht einmal mehr bestimmen, eine Spur von ihnen hat sich aber tief ins Gedächtnis gegraben. Eine sprachliche Wendung etwa, eine Illustration oder auch die Stimmung, die davon ausging. Und beinahe immer weiß ich auch noch den Kontext, in dem diese Geschichte zu mir gekommen ist, wer etwa mir dieses Buch vorgelesen hat.

Solange es noch nicht selbst lesen kann, gewährt das Vorlesen einem Kind Einlass in die Welt der Geschichten, später bleibt ein anderer Aspekt im Vordergrund, der mindestens genauso wichtig, vielleicht sogar wichtiger ist: Im Augenblick des Vorlesens spannt sich ein Raum auf, unter dem Vorleserin und Zuhörer gemeinsam Platz nehmen, ein Zelt aus Atem, Stimme und geteiltem Bewusstsein.

Das ist viel mehr als das gelesene Wort. Vorlesen ist Beziehung, ein Akt der Liebe, und die Möglichkeit, dieses Zelt aufzuschlagen, endet nicht mit dem Verlassen der Kindheit. Vielleicht aus Scham, vielleicht aus Zeitnot, nutzen wir sie selten, doch ich möchte dazu ermutigen, berufsmäßig sozusagen. Die Bücher, von denen ich dabei erzählen werde, haben in meinem Bücherregal den Platz von Inkunabeln erhalten, ihre Texte leuchten wie farbig gestaltete Handschriften.

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• Alexandra Mantler