"Der Peso ist einen Sch.dreck wert"

19. Oktober 2023, 13:00

Jede, der in Lateinamerika so beliebten Seifenopern ist langweilig dagegen, was in der argentinischen Politik derzeit passiert: am 22. Oktober finden im zweitgrößten Land Südamerikas Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt und die Ausgangslage könnte kaum brisanter sein.

Die Inflationsrate liegt bei über 120 Prozent. 40 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Die Klimakrise bringt historische Dürren, in Folge Ernteeinbrüche und Devisenrückgänge. Der Druck vom Internationalen Währungsfonds IWF, die enormen Schulden zurückzuzahlen und endlich Änderungen vorzunehmen, steigt. Kurzum: Argentinien befindet sich in einer Krise auf allen Ebenen. Im 40. Jahr ihres Bestehens muss die argentinische Demokratie existenzielle Herausforderungen bewältigen.

Anfang Oktober Woche fiel die Landeswährung, der Argentinische Peso, erneut massiv und erstmals wurden mehr als 1.000 Pesos für einen Dollar verlangt. Ursache für den massiven Verfall war - wieder einmal - der Wahlkampf und eine Äußerung des ultrarechten Präsidentschaftskandidaten Javier Milei, der den Peso einen "Scheißdreck" nennt, ihn abschaffen und den US-Dollar einführen will und auch anderweitig und international für Schlagzeilen sorgt: er fordert die Abschaffung der Zentralbank, leugnet die Verbrechen der Militärdiktatur und nennt "soziale Gerechtigkeit" einen abwegigen Begriff. Sich selbst beschreibt er als "Anarchokapitalist".

Javier Milei war der große Sieger der Vorwahlen am 13. August: er landete entgegen aller Umfragen und Vorhersagen auf dem ersten Platz und holte mehr als 30 % der Stimmen. Der Präsidentschaftskandidat der linken Regierung, der amtierende Wirtschaftsminister Sergio Massa, ist der große Verlierer der Vorwahlen. Die rechtsliberale Kandidatin Patricia Bullrich fordert eine Schocktherapie für die Wirtschaft und harte Repressionen gegen Proteste.

Der Politikwissenschaftler Tobias Boos verfolgt die Ereignisse in Argentinien auch mit wissenschaftlichem Interesse. Seit über zehn Jahren verbringt er regelmäßig mehrere Monate in dem Land und hat 2019 über das Verhältnis der argentinischen Mittelklasse zum "Kirchnerismo" dissertiert. An der Universität Wien forscht Tobias Boos an der Schnittstelle von Politikwissenschaft, politischer Ökonomie und politischer Soziologie unter anderem zum Populismus in Lateinamerika.

Unter welchen Vorzeichen wird am Sonntag in Argentinien gewählt und was braucht es, damit Argentinien sich aus seinen multiplen Krisen herausarbeiten kann? Wird die Bevölkerung der aktuellen Regierung bloß einen Denkzettel erteilen oder steht ein Bruch mit dem politischen System der letzten Jahrzehnte bevor? Ist die politische und wirtschaftliche Zukunft des Landes überhaupt vorhersehbar - mit Blick auf die Überraschungen der Vorwahlen - und was würde ein Wahlsieg von Javier Milei bedeuten?

Tobias Boos analysiert den Wahlkampf und die aktuelle Lage in Argentinien, gibt Einblicke in die Lebensumstände der Bevölkerung und blickt in die Geschichte zurück und über die Grenzen hinaus: was würde ein Rechtsruck in Argentinien bedeuten? Die überwiegend linken Regierungen in Lateinamerika haben die Wahlen allesamt mit Versprechen gewonnen, die soziale Lage im Land zu verbessern. In Argentinien ist das definitiv nicht gelungen.

Wie immer sind unsere Hörerinnen und Hörer sehr herzlich eingeladen, sich an der Diskussion zu beteiligen: telefonisch unter 0800 22 69 79 - kostenfrei aus Österreich - oder schriftlich per E-Mail an punkteins(a)orf.at

Sendereihe

• Punkt eins

Gestaltung

• Barbara Zeithammer