Absprung

28. November 2023, 06:57

Ich war höchstens 14 Jahre alt, da hat ein Schulfreund gewettet, er könne sich länger außen an der Tür einer anfahrenden Straßenbahn halten als ich.

Dass ich heute noch lebe, ist also purer Zufall, klar, für diese Erkenntnis braucht es keine pubertären Mutproben, das Leben ist grundsätzlich Glückssache, aber so aktiv fürs Weiterleben entschieden, wie beim Absprung von dieser Straßenbahn nach wenigen Fahrsekunden, habe ich mich seither nie wieder. Und zum Glück ist das gut ausgegangen. Sagte auch mein Vater damals, als er sich wieder beruhigt hatte und dann hat er mir von den ersten Zugreisenden im 19. Jahrhundert erzählt, die reihenweise in Ohnmacht gefallen sind, weil sie so überwältigt waren, von der irrwitzigen Geschwindigkeit. 30 Stundenkilometer, das war zu viel für sie.

Ob das wirklich so passiert ist, das habe ich bis heute nicht recherchiert. Die Geschichte meines Vaters konnte sich ungebremst von Fakten mit meiner persönlichen Grenzerfahrung zum Mythos verdichten. Dem Mythos von der Überwältigung durch die neue Geschwindigkeit. Und ich bin darin der Held, der rechtzeitig abspringt, der sich im letzten Moment gegen den rasanten Fortschritt und für ein Leben in Vernunft entscheidet. Kurz vor der Ohnmacht.

Damit bin ich gut gefahren. Bis das Leben in Vernunft teurer und teurer geworden ist und schließlich zu teuer war. Für Habenichtse gibt es keinen günstigen Moment für den Absprung vom Zug der Zeit. Ich muss meine Heldengeschichten wieder hinein verlagern, in fahrende Züge, mit denen wir schneller und schneller ans Ziel kommen. Gemeinsam. Vielleicht fahre ich damit besser.

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Hosea Ratschiller

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• Alexandra Mantler