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Radiokolleg
Der "Österreichische Mensch" (2)
Formende Diktaturen
23. Jänner 2024, 09:05
Ab 1933 baut der christlichsoziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß ein Regime auf, das von manchen Historikern "Austrofaschismus", von anderen "österreichische Diktatur" genannt wird. Diese Kanzlerdiktatur präsentiert sich auch unter dem Nachfolger Kurt Schuschnigg als das eigenständige "bessere Deutschland" im Gegensatz zu Hitlers Drittem Reich.
Unter dem Eindruck der NS-Machtergreifung hatten zuvor selbst die Sozialdemokraten den "Anschlussparagaphen" aus ihrem Parteiprogramm entfernt, an dem sie so wie die großdeutschen Parteien bis dahin festgehalten hatten.
Für die überwiegende Mehrheit der damaligen Landsleute liegt es dennoch auf der Hand, dass die Österreicher Deutsche sind.
Da muss also an den Schrauben der Identitätsfindung gedreht werden. Der kurze Bürgerkrieg 1934 und das Verbot der Sozialdemokratie fügen diesem Vorhaben allerdings einen schweren Dämpfer zu. Und die (bald ebenso in den Untergrund gedrängten) Nationalsozialisten arbeiten ohnehin zielstrebig auf den "Anschluss" hin. Bis zu Schuschniggs Ausruf am 24. Februar 1938 "Bis in den Tod! Rot-Weiß-Rot! Österreich!" laviert das Regime zwischen "deutsch" und "österreichisch" hin und her, um dann im März 1938 von der braunen Flut hinweggefegt zu werden.
Obwohl im Dritten Reich alles Österreichische bis hin zum Namen des Landes verpönt, verbannt und verboten wird, legt Jahrzehnte danach der Historiker Oliver Rathkolb verblüffende Entwicklungslinien frei: Nicht nur der österreichische Widerstand und die vom ungünstigen Kriegsverlauf frustrierten "Ostmärker" haben ein eigenes Österreichbewusstsein entwickelt, sondern ausgerechnet vom Wiener NS-Gauleiter Baldur von Schirach gingen folgenreiche Impulse einer paradoxen separaten Identität aus .
Service
Radiokolleg-Podcast
Muamer Becirovic: Clemens Wenzel von Metternich oder Das Gleichgewicht der Mächte: Biografie, Osburg Verlag Hamburg. Erscheint am 1.3.2024
Ernst Fischer: Der österreichische Volks-Charakter, Frei-Österreichische Bewegung in der Schweiz, Zürich o.J. (1944)
Martin Haidinger: Jedermanns Land. Österreichs Reise in die Gegenwart, Amalthea Wien, 2018
William M.Johnston: Der Österreichische Mensch. Kulturgeschichte der Eigenart Österreichs, Böhlau Wien-Köln-Graz 2010
Oliver Rathkolb: Schirach: Eine Generation zwischen Goethe und Hitler, Piper Verlag München, 2022
Oscar A.H.Schmitz: Der österreichische Mensch. Zum Anschauungsunterricht für Europäer, insbesondere für Reichsdeutsche. Literarische Anstalt, Wien 1924