Die Berufung

16. März 2024, 06:57

Als Alexej von Jawlensky neun Jahre alt war, das war 1873, zog die Familie nach Aschenstowo an der preußischen Grenze. Dort führte Mutter Alexandra die Kinder in eine polnische Kirche, in der sich eine berühmte Ikone einer wundertätigen Muttergottes befand.

"Als wir kamen", erinnert sich Jawlensky 60 Jahre später, "war das Bild mit einem goldenen Vorhang verhüllt. Auf dem Boden lagen viele Bauern und Bäuerinnen wie gekreuzigt mit ausgestreckten Armen. Es war sehr still. Plötzlich zerrissen starke Posaunenklänge die Stille. Ich erschrak schrecklich und sah, wie der goldene Vorhang sich öffnete und die Madonna in goldenem Gewand erschien." Jawlensky schreibt diesem Erlebnis die größte Bedeutung für sein Schaffen zu.

Anlässlich des Besuchs der "Allrussischen Industrie- und Kunstausstellung" in Moskau im Jahr 1882 entdeckte der junge Alexej dann die Kunst. In der berühmten Tretjakow Galerie. Jawlensky deutet diese Entdeckung auch als ein zutiefst religiöses Erlebnis: "… es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich Bilder sah, … von dieser Zeit an bin ich jeden Sonntag schon sehr früh in die Tretjakow-Galerie gegangen und blieb ohne Essen bis zum Schluss. Ich war wie in einem Tempel."

Jetzt wusste er, was seine Berufung ist: nicht Offizier - wie sein Vater und seine Brüder - sondern Künstler. Gegen Ende seines Lebens - als er schon gar nicht mehr malen konnte, diktiert er in einem berühmten Brief an den Malerfreund und Benediktinermönch Willibrord Verkade: "Ich fing an, einen neuen Weg in der Kunst zu suchen. … Ich verstand, dass ich nicht das malen musste, was ich sah, auch nicht das, was ich fühlte, sondern das, was in mir, in meiner Seele lebte … die Seele muss sich anstrengen. Und durch das kommt man zum Verständnis. Das ist immer so."

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