ORF/JOSEPH SCHIMMER
Gedanken für den Tag
Innenansichten
von Mirja Kutzer, Theologin und Germanistin
25. März 2024, 06:57
Es ist durchaus ambivalent, eine ganze Texttradition als Mystik zu bezeichnen. Laut Wörterbuch bedeutet "mystisch" so viel wie "dunkel", "geheimnisvoll", "unergründlich". Das so benannte Mystische ist damit faszinierend, zweifellos, aber eben auch schwer nachvollziehbar, nicht objektiv zugänglich und hat mit Vernunft oder Wissen nicht viel zu tun. Texte mit "Mystik" zu labeln, heißt entsprechend oft, sie nicht so wahnsinnig ernst zu nehmen.
Und doch hat Mystik durchaus mit Wissen zu tun, geht man von der griechischen Wortbedeutung aus. In Mystik steckt die Silbe "my". "My" bezeichnet das Schließen des Mundes oder der Augen. Es ist körperliche Reaktion auf eine Erfahrung, die sich der Sprache entzieht. Dies nun ist etwas sehr Alltägliches. Ich höre, zum Beispiel, das Rauschen des Windes in einem Baum vor meinem Fenster. Ich schließe die Augen und nehme die vielfältige Tonlage in mich auf. Ich esse den ersten Bissen von einem gut gekochten Mittagessen, schließe die Augen und unwillkürlich entfährt mir ein genussvoller Seufzer. Oder ich schließe die Augen und erinnere mich, wie es war, vor vielen Jahren die Babybäckchen meiner Tochter zu küssen ... und an das Gefühl, dieses Zerspringen vor Liebe, das sich sofort wieder einstellt.
Kann ich ausdrücken, was sich in diesen Momenten des Augenschließens ereignet? Kann ich diese Unmittelbarkeit, die mich so ganz in Anspruch nimmt, in Sprache überführen? Gar in Begriffe, in Wissen? Jedenfalls nicht, ohne auf dem Weg dorthin zu opfern, was diese Erfahrungen ausmacht. Die Texte, die heute als Mystik bezeichnet werden, legen den Finger darauf, dass solche Erfahrungen zu uns gehören und dass sie Teil unseres Wissens von der Welt sind.
Service
Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Giorgio Mainerio um 1535 od.1545 - 1582
Album: "ALLERLEY DAENTZE..." - TANZMUSIK AUS MITTELALTER UND RENAISSANCE
* Ballo francese - 3.Satz (00:01:30)
Titel: Suite aus "Il primo libro de bailli", 1578
Ausführende: Odhecaton - Ensemble für alte Musik, Köln
Länge: 01:30 min
Label: FSM FCD 97751