Zwischenruf

Das Vermächtnis der weißen Nelken

von Martin Schenk, Psychologe und stv. Direktor der evangelischen Sozial-NGO Diakonie

Nelken waren die Lieblingsblumen von Ann Maria Jarvis. Sie gilt als Erfinderin des Muttertages. Die weißen Nelken liebte sie besonders. Ann Jarvis sah zu viele Kinder sterben, Kinder, die gerade geboren waren, Babys und Kleinkinder, auch ihre eigenen.

Im amerikanischen Virginia des 19.Jahrhunderts war die Säuglings- und Kindersterblichkeit hoch. Die Arbeits- und Wohnbedingungen waren für viele katastrophal. Ann Jarvis begann Familien zu unterstützen, deren Mütter an Tuberkulose erkrankt waren. Sie erstellte Qualitätstests für Milch und besuchte Familien, um die hygienischen Zustände zu verbessern. Die evangelische Methodistin gründete die "Mothers'Day Work Clubs" mit dem Ziel, sanitäre Missstände zu beseitigen, Gesundheit in Familien zu fördern und damit der hohen Kindersterblichkeit entgegenzuwirken. Diese sozialen Aktionsteams versorgten die Ärmeren mit Medizin und organisierten Haushaltshilfen für Familien, in denen Frauen und Kinder erkrankt waren. Nelken waren Anns Lieblingsblumen: "Die Nelke wirft ihre Blütenblätter nicht ab, sondern drückt sie an ihr Herz", soll sie gesagt haben, um zu verdeutlichen, warum die Sorge um ein gutes und gesundes Aufwachsen von Anfang an so wichtig ist. Auch heute.

Die Kindersterblichkeit ist in unseren Breiten massiv zurückgedrängt worden - durch Kanalisation, Müllabfuhr, Hygiene, medizinischen Fortschritt, sozialstaatliche Sicherungen, Frauen- und Menschenrechte. Die Sorge um ein gutes und gesundes Aufwachsen ist geblieben. Postnatale Depressionen, Schwierigkeiten in der Partnerschaft, finanzielle Probleme, allein sein, kein hilfreiches soziales Netz, selbst keine gute Kindheit erlebt haben - all das kann junge Frauen am Anfang ordentlich bedrücken. Und bei Kindern lasten die Welt-Unsicherheiten auf der Seele: Krieg, Teuerung, Armut, Klima, Pandemien. Angstsymptome, Schlafstörungen und depressive Verstimmungen sind auf einem Höchststand. Die meisten Kinder und Jugendlichen können das gut bewältigen, haben Ressourcen und Kraft, das zu schaffen. Andere aber sind verletzlicher, sind chronischem Druck und Enge ausgesetzt, haben weniger Reserven. Beengtes Wohnen und geringes Einkommen zu Hause verschärfen die Situation. Wir merken das am Krisentelefon, in den mobilen Therapien, Jugendnotschlafstellen oder Wohngemeinschaften. Kinder brauchen Hilfe, wenn sie mit ihrem Alltag und sich selbst nicht mehr zu Recht kommen.

Ann Jarvis - und dann auch ihre Tochter - haben die konkrete Hilfe für Frauen und Kinder mit dem Kampf um soziale und demokratische Rechte verbunden. Es ging damals um das Wahlrecht für Frauen und um den Aufbau einer Gesundheitsversorgung, die auf sozialen Grundrechten basiert. Der Muttertag hat seinen Ursprung im Engagement für bessere Gesundheit und soziale Gerechtigkeit. Das ist vielfach in Vergessenheit geraten. Ann Jarvis sah zu viele Mütter und zu viele Kinder sterben. In ihrem Kampf für bessere Lebensbedingungen hielt sie sich an den weißen Nelken fest - ihren Lieblingsblumen.

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Johannes Brahms
Album: Brahms Klavierwerke - Sophie Mayuko Vetter
* Romanze F-Dur. Andante
Titel: Sechs Klavierstücke op.118 (1893)
Solist/Solistin: Sophie-Mayuko Vetter /Klavier
Länge: 04:29 min
Label: hänssler Classic 98048

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