DANIEL BISKUP
Gedanken für den Tag
Der unverfügbare Mensch
von Ahmad Milad Karimi, Religionsphilosoph und Islamwissenschaftler
12. Juni 2024, 06:57
Jakob liebte seinen Sohn Josef. Doch er konnte ihn nicht beschützen, nicht einmal vor seinen Brüdern. Diese Geschichte wird sowohl in der Bibel als auch im Koran geschildert.
Unser Leben geschieht mit uns, aber wir haben uns nicht: nicht uns selbst, nicht die Menschen, die wir in Liebe umschließen. Jedes Leben scheint eine eigene Haltbarkeit zu haben, doch wer verfügt darüber - über unsere Geburt, über die Familie, in die wir hineingeboren werden, über das Altern, über das Glück, über die nächste Begegnung, die unser Leben verändern wird, über die Liebe und das Sterben?
Jakob konnte Josef nicht halten. Denn der Mensch ist kein Objekt, keine Ware, kein Produkt. Er ist letztlich kein verfügbares Wesen. Der unverfügbare Mensch ist der Mensch, der in wahrender Haltung zu sich selbst lebt, in Achtung vor sich selbst, sodass er nicht einmal über sich selbst verfügt. Unsere Würde beruht auf dieser Unverfügbarkeit. Doch genau diese Würde ist heute bedroht, wenn der Mensch zunehmend als funktionales Objekt betrachtet wird, das optimiert und verwertet werden kann. Wenn wir auf unsere messbare Leistung und nutzbare Produktivität reduziert werden, verlieren wir den Blick für die Unverfügbarkeit, Einzigartigkeit und Widersprüchlichkeit jedes einzelnen und damit für das, was uns als Menschen ausmacht.
Unsere unverfügbare Würde liegt jenseits aller ökonomischen und technischen Instrumentalisierung. Gefragt ist also eine andere Haltung zum Menschsein, die uns in unserer Unzulänglichkeit und Brüchigkeit annimmt. Denn menschliches Leben stellt kein Kalkül dar. Es ist ein Vollzug der Freiheit, die auf der schwachen Hoffnung beruht, dass unser Leben gelingen möge. Als Jakob hört, dass sein Josef nicht gestorben sei, müsste er an diese schwache Hoffnung erinnert sein, die mit der Frage verbunden ist, was es heißt, ein Mensch zu sein.
Service
Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Erik Satie 1866 - 1925
Album: ERIK SATIE: WERKE FÜR KLAVIER
* Lent et grave - Nr.3 (00:02:10)
Titel: 3 Gymnopedies für Klavier
Solist/Solistin: Aldo Ciccolini
Länge: 02:10 min
Label: EMI Classics 2530702