TAGEBÜCHER

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Gedanken für den Tag

"Heute" sagen, heute schreiben

Ingrid Pfeiffer, Germanistin, über das Verfassen und das Lesen von Tagebüchern.

Die erste Lektüre eines Tagebuches war für mich, wie wahrscheinlich für viele, das Tagebuch der Anne Frank. Seine historische Dimension erzeugte ein Erschrecken, ein erstes Erkennen, wie es der Schulunterricht mit seinen neutralisierten Informationen nicht geschafft hatte. Zugleich war es eine Begegnung mit einer etwa Gleichaltrigen, die mit ihren Aufzeichnungen etwas unternommen hatte, das auch mein (halbwüchsiges) Leben gerade zu verändern begann. So erfuhr ich damals - freilich noch ohne darüber nachzudenken -, was bei Kafka zu lesen ist: "Ein Mensch, der kein Tagebuch hat, ist einem Tagebuch gegenüber in einer falschen Position."

Ein Tagebuch ist ein Projekt, nicht selten ein Lebenswerk. Wenn ich aber hier von Tagebüchern spreche, beziehe ich mich ausschließlich auf jene "echten", die ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren. Ihre Aufrichtigkeit berührt unmittelbar, welcher Form auch immer sie sind, Chronik oder Selbsterforschung, Entwicklungsort oder dichterisches Übungsgelände. Dieses Ich-Sagen in derart radikaler Form ist nicht selten den Diarist:innen selbst zu viel, zu eng, zu ungesichert. Wenn auch nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen, geht es in jedem Tagebuch letztlich um Kommunikation. Es wird angesprochen, wie etwa von Gombrowicz als "Mein geliebtes Tagebuch, treuer Hund meiner Seele" oder in Briefform geführt, wie das von Anne Frank. Cesare Pavese richtete sich in seinem "Handwerk des Lebens" nicht selten an sich selbst als "Du".

Und wir als Leserinnen und Leser sind das nachträgliche Gegenüber, sind aber auch Eindringlinge mit Erwartungen und Ansprüchen, nach denen wir uns fragen lassen müssen, wie die russische Dichterin Marina Zwetajewa das tat. Wieso gerade im Tagebuch erwartet werde, was weder in der Wirklichkeit noch in irgendeiner anderen Form literarischer Selbstdarstellung zu erwarten sei, nämlich Identität und Wahrheit.

Service

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Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Tom Tykwer
Komponist/Komponistin: Johnny Klimek
Komponist/Komponistin: Reinhold Heil
Vorlage: David Mitchell
Gesamttitel: CLOUD ATLAS / Original Filmmusik
Titel: Cloud Atlas end title
Orchester: MDR Sinfonieorchester
Leitung: Kristjan Järvi
Ausführender/Ausführende: Taka Kigawa
Ausführender/Ausführende: Ragna Schirmer
Länge: 07:56 min
Label: Sony Classical/Sony Music 88765411202

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