Zwischenruf
Eine Himmelsmacht für alle
von David Weiss, ehrenamtlicher Seelsorger der evangelischen Kirche
1. Dezember 2024, 06:55
Ich bin kein Mensch mit besonderen Bedürfnissen. Ich habe dieselben
wie alle. Aber es fällt mir schwerer, sie zu befriedigen. Ich bin ein
weißer heterosexueller Mann Mitte 40 mit einer chronischen Krankheit
und einem Behinderungsgrad von 70 Prozent.
Die alten Griechen kannten sechs Arten der Liebe: von Eros, der Lust,
über Pragma, der beständigen Liebe, bis zu Philautia, der Selbstliebe.
Mir kommt vor, in der Partnerwahl sind heute von dem halben Dutzend,
nur noch die erste und letzte übrig. Ich werde oft an die anderen vier
erinnert, aber bloß, um mich über mein Verlangen nach Sex
hinwegzutäuschen.
Ich bin kein Mann für eine Nacht, mit mir verbringt sie höchstens
zwei, drei Stunden am Tag. Ich bin die platonische Ergänzung für
alles, wofür ihrem Liebhaber der Sinn fehlt. Ich bin ihr
Sozialprojekt. Wir reden, gehen ins Museum, ins Theater und so weiter.
Aber Tisch und Bett teilen? Sie schweigt. Sie erwartet, dass ich die
Zeichen deute. Ich will nicht, ich bin verliebt. Irgendwann lügt sie.
Und mit der Wahrheit fühlen wir uns beide nicht wohl. Sie entspricht
nicht unserem Selbstbild. Ich fühle mich kastriert, "Bleeding All Over
The Place", wie es in einem Lied von Randy Newman heißt. Sie hat keinen
Namen mehr, sie ist ein Stereotyp. Wir sind beide nur noch Klischees.
Der Eros ist eine Himmelsmacht. In vielen religiösen Traditionen wird
er als etwas Heiliges hochgehalten - nicht zuletzt in der Bibel, vor
allem im Ersten Testament, das Christentum und Judentum miteinander
verbindet. Es geht dabei um mehr als um ein bisschen Spaß haben. Es
geht um Ekstase, etwas, das unverzichtbar zum Menschsein gehört.
Wie soll ich als körperlich eingeschränkter Mann mit meinen zutiefst
menschlichen Bedürfnissen umgehen?
Selbst Nahestehende verplappern sich, dass sie meinem Wunsch nach
Zweisamkeit für unerfüllbar halten. Ein gutgemeinter Rat lautet, die
eigenen Erwartungen zu senken. Ich soll auf innere Werte achten oder
- Zitat - mir jemanden suchen, die oder der auch etwas hat. So spielen
Attraktivität und Vermögen keine Rolle.
Wenn ich meine Ansprüche senken muss, um innere Werte zu schätzen,
sind Loyalität und Menschenliebe der Luxus der Hässlichen und Armen?
Kurz: Bin ich als von Symptomen gestalteter Mensch nichts wert? Ist
meine Ausgrenzung gesellschaftlich akzeptiert? Müssen Kranke und
Menschen mit Behinderung unter sich bleiben?
Nein. "Philia", die Liebe in der Freundschaft; "Storge", die der Familie,
und "Agape", die Selbstlose - die tiefste und innigste, nicht nur für
die Hellenen - die gibt es noch. Die Liebe wird es immer geben. Alle sechs.
Auch in zwei Herzen vereint. Ungeachtet dessen, ob einer der zwei Teile eines Paares eine Behinderung haben - oder keiner, oder vielleicht alle beide. Das beweisen jeden Tag loyale Partnerinnen und Partner, liebevolle Familienbanden und Wahlverwandtschaften, ebenso professionelle und ehrenamtliche Menschen in Sorge und Versorgung.
Ich werde Liebe finden, sobald ich meine Ansprüche hebe. Denn ich weiß,
dass es Menschen gibt, die mit, trotz und jenseits der Behinderung lieben können.
Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Christian Muthspiel
Vorlage: John Dowland
Album: DANCING DOWLAND - MUSIK NACH "LACHRIMAE, OR SEAVEN TEARES" VON JOHN DOWLAND
Titel: Dancing Teares : Six/instr.
Ausführende: Christian Muthspiel Trio
Ausführender/Ausführende: Christian Muthspiel /Piano
Ausführender/Ausführende: Franck Tortiller /Vibr.
Ausführender/Ausführende: Georg Breinschmid /Bass
Länge: 03:05 min
Label: Emarcy/Universal 1799994