Mutter hält Neugeborenes

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Punkt eins

Baby tot, Mutter geständig, Hilfe gescheitert

Kindstötungen, Risikofaktoren, Prävention: Was hilft Frauen in der verletzlichsten Phase ihres Lebens? Gäste: Assoc. Prof. PD Dr. Claudia Klier, MedUni Wien & Anna Oberdorfer, ehm. von peripartaler Erkrankung Betroffene. Moderation: Barbara Zeithammer. Anrufe 0800 22 69 79 | punkteins(at)orf.at

Ein Neugeborenes wird tot in einem Hotel gefunden; ein vermisst geglaubtes Baby in einem Müllcontainer nahe der Klinik Favoriten und in beiden Fällen, die sich vor Kurzem in Wien ereignet haben, ist die Mutter geständig. Die Betroffenheit ist groß. Warum tötet eine Mutter ihr Kind? Wie kam es dazu? War die Tat nicht vorhersehbar? Wäre sie vermeidbar gewesen?

Auch wenn sich viele Fragen stellen, greift die gesellschaftliche Debatte über Kindstötungen, Risikofaktoren und Möglichkeiten der Prävention oft zu kurz, meint Anna Oberdorfer und erzählt ihre Geschichte - in der ORF TV Sendung Thema, in der Stadtzeitung Falter, in dieser Ausgabe von Punkt eins: eine junge, gesunde Frau, eine glückliche Ehe, ein Wunschkind, eine problemfreie Schwangerschaft, eine schmerzarme Geburt. Und auf einmal findet sie sich in einer Situation wieder, "wo es ganz dunkel ist" - sie erleidet einen akuten psychiatrischen Notfall, eine postpartale Psychose und schafft es, trotz Widrigkeiten (sie wird mehrfach von Kliniken abgewiesen), sich Hilfe zu organisieren.

"Meinem Kind geht es gut, ich bin eine glückliche Mutter. Ich bin privilegiert, bin gebürtige Österreicherin, Akademikerin und weiß mir zu helfen. Ich frage mich jedoch, wie es jenen Frauen in diesem System geht, die das alles nicht haben, die kein Deutsch sprechen, die alleine sind", so Anna Oberdorfer im Falter. Seit dieser Erfahrung will sie wachrütteln und entstigmatisieren und setzt sich dafür ein, dass der psychischen Gesundheit von werdenden und jungen Müttern Aufmerksamkeit geschenkt wird.

"Rund um die Geburt besteht für Frauen das höchste Risiko, während ihres Lebens psychisch zu erkranken", sagt Claudia Klier, Professorin an der MedUni Wien, Leiterin der Pädiatrischen Psychosomatik. Perinatale psychische Erkrankungen sind die häufigsten Komplikationen bei der Geburt eines Kindes und treffen mehr Frauen, als den meisten Menschen bewusst ist: Etwa drei von vier Frauen haben mit einem Stimmungstief nach der Geburt zu kämpfen. Geschätzt jede sechste Frau erleidet eine postpartale Depression, eine ernstzunehmende Erkrankung. Frauen, die bereits vor der Schwangerschaft an einer psychischen Erkrankung litten, sind stärker gefährdet. Die sehr schwere postpartale Psychose betrifft ein Promille aller Frauen, das sind doch 80 Frauen im Jahr, mit einem hohen Risiko eines Suizides und Tötung des Kindes, erklärt Prof. Dr. Claudia Klier.

"Die postpartale Depression betrifft deutlich mehr Frauen als zum Beispiel Schwangerschaftsdiabetes", sagt Anna Oberdorfer, "aber es gibt keine einzige postpartale psychische Untersuchung der Mutter im Mutter-Kind-Pass".

"Mehr als die Hälfte der Elternteile, die ihr Kind getötet haben, haben im Jahr vor der Tat wegen psychischer Probleme einen praktischen Arzt oder einen Facharzt aufgesucht", sagt Claudia Klier von der MedUni Wien, die zum Thema Filizid und Neonatizid forscht. "Es ist nicht so, dass Betroffene nicht Hilfe suchen, aber leider wird hier zu wenig nachgefragt: Haben Sie je daran gedacht, Ihrem Kind etwas anzutun? Diese Frage muss man stellen", sagt Claudia Klier, die Risikofaktoren für Kindstötungen im 21. Jahrhundert erforscht hat. Etwa alle zwei Monate geschieht in Österreich ein Filizid, so wird die Tötung des eigenen Kindes in der Fachsprache genannt; Neonatizid meint die Tötung eines Kindes unmittelbar nach der Geburt.

Seit es die Möglichkeit zur anonymen Geburt gibt, ist die Zahl der Neugeborenentötungen von im Schnitt sieben auf im Schnitt drei pro Jahr in Österreich gesunken ist, bilanziert Claudia Klier. Die Gründe für Kindsweglegungen sind vielfältig, ebenso die Faktoren, die dazu führen, dass (meist) die Mutter ihr Neugeborenes tötet. Bei Neonatiziden zeigt sich jedoch häufig eine Gemeinsamkeit, sagt Claudia Klier: die Frauen verdrängen oder verheimlichen ihre Schwangerschaft, bringen das Kind allein zur Welt und töten es "in Panik" aktiv oder passiv durch weglegen und ignorieren. Es ist eine Tat, die mit "sehr starken Verdrängungsmechanismen auch des unmittelbaren Umfeldes einhergeht", so die Professorin: Die befragten Angehörigen haben so wie die Frau selbst die Schwangerschaft nicht wahrgenommen; das passiert aber auch bei Arztbesuchen, die wegen Beschwerden von der Schwangeren erfolgen, so Claudia Klier.

Was brauchen Frauen in einer Lebensphase, in der sie so vulnerabel sind, wie nie sonst? Welche Tabus verhindern Hilfe und Unterstützung, wo werden Symptome fälschlicherweise bagatellisiert, wie kann man werdenden Eltern das dringend nötige Wissen darüber vermitteln, welche psychischen Erkrankungen es im Zuge einer Schwangerschaft und Geburt gibt, welche Situationen für Mutter und Kind gefährlich werden können und wo man Hilfe findet? Und wie ist es um diese Hilfe bestellt?

Claudia Klier und Anna Oberdorfer sind Gäste bei Barbara Zeithammer und unsere Hörerinnen und Hörer sehr herzlich eingeladen, mitzureden unter 0800 22 69 79 oder schriftlich an punkteins(at)orf.at

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