Zwischenruf

Wenn man sich selbst fremd wird

von Martin Schenk, Sozialexperte der Diakonie Österreich und Psychologe

Wenn sie den ganzen Tag alleine sind, rücken ihre Probleme in den Vordergrund. Einsamkeit und Isolation ist für fast jeden Menschen hart. Die Jugendlichen, die zur Jugendnotschlafstelle der Diakonie kommen, sind Überlebenskünstler und -künstlerinnen. Sie kennen Krisen. Sie sind mit Krisen aufgewachsen. Die Erfahrung damit gibt ihnen jetzt auch eine gewisse Stärke. Aber an den Umständen ändert es nichts.

700.000 Menschen in Österreich, knapp acht Prozent der Bevölkerung, sind in den vergangenen vier Wochen meistens oder immer einsam gewesen, so die Statistik Austria. Darunter überraschend viele Jugendliche. Hier geht es nicht um die selbstgewählte Einsamkeit in der Askese oder im Mönchstum, im Aussteigen oder eine Woche in die Stille Gehen. Den Unterschied zwischen Einsamkeit und Alleinsein macht die Freiheit.

Es gilt die unfreiwillige Einsamkeit, unter der man leidet, zu trennen vom freiwilligen Alleinsein, nach dem man sich bisweilen sehnt. Die Philosophin Hannah Arendt fasst das so zusammen: "Ich nenne diesen existentiellen Zustand, in dem ich mit mir selbst umgehe, ‚Alleinsein', im Unterschied zur ‚Einsamkeit', in der man auch allein ist, aber nicht nur der Gesellschaft anderer Menschen entbehrt, sondern auch der möglichen eigenen."

Hier spricht sie etwas an, das bei Einsamkeit oft übersehen wird: die Entfremdung; das Gefühl, sich selbst fremd zu werden. Denn Einsamkeit bedeutet, sich von der Welt getrennt fühlen. Spricht man mit Betroffenen, dann äußern sie in der Tiefe: Wir sind hier verlassen worden. Ich bin verlassen. Vergessen und abgelegt. Einsam und isoliert. Die Welt gibt es da draußen, aber ich bin nicht mehr mittendrin. Die Welt mag tönend, farbig, warm und frisch sein. Meine Welt ist es nicht mehr. Wer sich von allen guten Geistern verlassen fühlt, verliert auch das Vertrauen in die Welt rundum, in seine Umgebung, in die Gesellschaft, in die Demokratie. Je einsamer, desto geringer die Wahlbeteiligung und das Vertrauen in demokratische Institutionen, sagen uns Daten der Universität Wien.

Wenn die Freiheit fehlt, über Nähe und Distanz selbst entscheiden zu können, dann kommen die Probleme. Sei es, dass zu viel Nähe in beengten und überbelegten Wohnungen die Autonomie verletzt, oder zu wenig an Nähe Menschen sozial isoliert. Sei es, dass zu viel Nähe mit bestimmten Personen die Lebensentfaltung blockiert, oder zu wenig an Nähe die Welt verdunkelt. Es geht im Kern um die Freiheit, über Nähe und Distanz in Maßen verfügen zu können.

Die Jugendlichen, die jetzt bei uns in der Jugendnotschlafstelle wohnen, haben niemanden. Keine Familie, keine anderen Bezugspersonen. Wir setzen uns zusammen und reden miteinander. Über Probleme, Ängste, Beziehungen, über alles Mögliche. Die Feiertage rund um Weihnachten und Neujahr machen viele traurig. Die Stille ist jetzt besonders laut. Soziale Isolation geht unter die Haut, verändert die Beziehung zur Welt. Einsamkeit ist kein individuelles Schicksal, sondern geht uns alle an. Mit anderen Worten: Wer etwas gegen Einsamkeit tut, tut auch etwas für sozialen Zusammenhalt, Gesundheit und Demokratie.

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Keith Jarrett
Album: BOOK OF WAYS - THE FEELING OF STRINGS / Vol.2
Titel: No.11/instr.
Nr
Solist/Solistin: Keith Jarrett /Clavichord
Länge: 06:23 min
Label: ECM 1345 / 8313962 (2 CD)

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