AP/HUSSEIN MALA
Punkt eins
Die Zukunft Syriens unter HTS
Terroristen, Rebellen, Freiheitsbringer: Wer sind die neuen syrischen Machthaber und was sind ihre Pläne? Gast: Dr. Thomas Schmidinger, Politikwissenschaftler und Autor, Associate Professor an der University of Kurdistan Hewler (UKH) in Erbil in Irakisch-Kurdistan und Lehrbeauftragter am Institut für Politikwissenschaft, Universität Wien. Moderation: Barbara Zeithammer. Anrufe 0800 22 69 79 | punkteins(at)orf.at
15. Jänner 2025, 13:00
Vor drei Tagen hat in Saudi-Arabien eine internationale Konferenz zur Lage in Syrien nach dem Sturz von Machthaber Baschar al-Assad begonnen. Wenige Tage zuvor war die so genannte Quint-Gruppe, die Außenminister der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und Deutschland in Rom zusammengekommen. Die Hoffnung auf ein neues Syrien in der Bevölkerung ist ungebrochen; Beobachter sehen die Chance für einen friedlichen Übergang gekommen und die syrische Interimsregierung vergibt erste Ämter und Posten.
Die neuen Machthaber unter der Führung von Ahmed al-Scharaa und der von ihm gegründeten Miliz HTS (Hajat Tahrir al-Scham, übersetzt in etwa: Vereinigung zur Befreiung der Levante) werden gleichsam als Befreier gefeiert, als "Opposition" und "Rebellen" bezeichnet, als Dschihadisten gefürchtet und gelten den USA, der EU und der NATO als Terrororganisation. Auf Ahmed al-Scharaa, der unter dem Namen Abu Mohammed al-Dschulani beim IS und als Anführer von al-Nusra beim Terrornetzwerk Al-Kaida aktiv war, war bis vor Kurzem ein Kopfgeld ausgesetzt, das die USA jüngst zurückgezogen haben.
Ahmed al-Scharaa hat sich nach eigenen Angaben von Al-Kaida losgesagt. Mit HTS hat er jahrelang autoritär die Region Idlib im Nordwesten des Landes regiert; dem Regime werden Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Wenige Tage nachdem es al-Scharaa mit HTS und einem Dutzend bewaffneter Gruppen in einer Blitzoffensive ab dem 27. November 2024 gelungen war, Assad zu stürzen, der am 8. Dezember nach Russland floh, kündigte er an, dass er schließlich plane, seine islamistischen Miliz HTS aufzulösen. In vier Jahren sollen freie und faire Wahlen in Syrien stattfinden. Al-Scharaa spricht von "regionalem Frieden", traf sich mit Vertretern der großen christlichen Glaubensgemeinschaften und kündigte die Demobilisierung aller bewaffneten Gruppen im Land und ihre Integration in eine neue syrische Armee an.
Die Miliz HTS ist derzeit die stärkste militärische Kraft im Land, aber nicht die einzige und die Lage ist noch keineswegs friedlich und ruhig; immer wieder werden Kämpfe und Bombardements gemeldet. Die Spannungen zwischen der Türkei und den syrischen Kurden in der Autonomen Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (Rojava) nehmen unterdessen zu. Erst vor wenigen Tagen hat der türkische Außenminister erneut mit einer grenzübergreifenden Militäroperation gedroht und verkündet, "Syrien vom Terrorismus zu befreien", sei eine der Prioritäten der türkischen Außenpolitik für 2025. Unlängst gab es wieder Berichte über Tote bei Kämpfen zwischen syrischen Milizen - die wichtigste in der kurdischen Region Rojava sind die so genannten Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), von den USA im Kampf gegen IS unterstützt - und von der Türkei unterstützten Gruppen.
Wie stehen die Chancen dafür, dass das religiös, ethnisch und politisch so komplexe und vom Bürgerkrieg versehrte Land Frieden findet und die Milizen und Fraktionen gemeinsam den Wiederaufbau schaffen können? Wie radikal sind die neuen Machthaber tatsächlich, welche Interessen verfolgen sie? Wie sind die Perspektiven für Frauen und Mädchen, für Minderheiten wie Kurden, Christen, Drusen und Alawiten? Wie werden Syriens neue Machthaber den türkischen Drohungen und Angriffen begegnen und wie groß ist die Gefahr, dass die Terrororganisation IS ein Machtvakuum ausnutzen und sich ausbreiten könnte?
Der Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger ist zu Gast bei Barbara Zeithammer und analysiert die aktuelle Lage in der Region, die er sehr gut kennt. Er bereist Syrien, die Kurdengebiete und zahlreiche andere Länder im Nahen Osten seit 1999 regelmäßig und dokumentiert und analysiert die Entwicklungen in seinen Publikationen. Seit einigen Jahren ist er Associate Professor an der University of Kurdistan Hewler (UKH) in Erbil in Irakisch-Kurdistan; an der Universität Wien arbeitet er als Lehrbeauftragter.
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Sendereihe
Gestaltung
- Barbara Zeithammer