Fotos verstorbener Gefangener des KZ Auschwitz

PICTUREDESK.COM/AFP/JANEK SKARZYNSKI

Gedanken für den Tag

Postkarten, Geburtsurkunde und der Holocaust

Anna Goldenberg, Journalistin und Autorin, zum 80. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz.

In der Wohnung meiner Großmutter ist viel Platz und den hat sie ausgenutzt. In jeder Lade, in jedem Kästchen finden wir Dinge, die sie nicht weggeworfen hat. Alte Zugfahrkarten und Kongressprogramme hat sie ebenso aufgehoben wie unzählige Todesanzeigen.

Es ist nicht das Durcheinander, das mich wundert. Meine Großmutter hat zu der Generation gehört, für die der Speicherplatz eines Computers nicht selbstverständlich war, die erst spät gelernt hat, etwas im Internet nachzuschauen. Was sie nicht vergessen wollte, musste sie aufheben. Dabei nachzusortieren und auszumisten - wer schafft das schon? Auch mein E-Mail-Posteingang quillt immer über.

Es ist das Nebeneinander, das ich nun neu entdecke. Das Nebeneinander von alltäglichen Dingen und Dokumenten, die von Verzweiflung, Verfolgung und Vernichtung zeugen. Inmitten all der Rechnungen, Telegramme und Grußkarten finde ich nämlich auch jene Briefe, die von den Versuchen meiner Urgroßmutter bezeugen, mit ihrer Familie 1938 aus Österreich zu fliehen. Ohne Erfolg.

Ich halte die Postkarten in der Hand, die mein Urgroßvater seiner Tochter Helga nach Theresienstadt geschrieben hat. Er war zu dieser Zeit in Italien interniert und wurde dann nach Auschwitz deportiert.

Im Leben meiner Großmutter hat es keinen sogenannten Schlussstrich gegeben. Der Holocaust war immer dabei. Jetzt sehe ich ihn in den Geldscheinen in fremden Währungen, die zwischen den Dokumenten liegen. Die Flucht war eine Option, die ein Leben lang präsent geblieben ist. Der Holocaust ist in den Geburtsanzeigen von Helgas vier Kindern, die Namen der ermordeten Verwandten tragen. Und er ist wohl auch in ihrem Bedürfnis, alles aufzuheben und zu dokumentieren, weil sie so viele Menschen gekannt hat, die nicht überlebt haben, um das zu tun.

Service

Buch, Anna Goldenberg, "Versteckte Jahre. Der Mann, der meinen Großvater rettete", Zsolnay Verlag

Podcast abonnieren

Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: Fanny Hensel, geb. Mendelssohn
Album: Mendelssohn: Klaviermusik
Titel: Notturno für Klavier g-Moll, H 337
* Andantino
Solist/Solistin: Isata Kanneh-Mason
Länge: 04:20 min
Label: Decca 4870256 EAN: 0028948702565

weiteren Inhalt einblenden