Punkt eins

Lesen mit Beipackzettel

Auf dem Weg zur "Wohlfühl-Literatur"? Sensitivity reading und die Folgen.
Gäste: Prof. Dr. Erika Thomalla, Zentrum für Buchwissenschaft, Ludwig-Maximilians-Universität München & Dr. Andreas Wirthensohn, Literaturwissenschaftler und -kritiker, Übersetzer, freier Lektor. Anrufe 0800 22 69 79 | punkteins(at)orf.at

2021 häuften sich im deutschsprachigen Raum erregte Zeitungsartikel, nachdem bekannt geworden war, dass der Herausgeber der Lustigen Taschenbücher, der Egmont-Ehapa-Verlag, die weltberühmten Figuren rund um Donald Duck in der deutschen Übersetzung nicht mehr so reden ließ, wie ihnen der Schnabel gewachsen war: "Die Sprachpolizei operiert in Entenhausen", hieß es etwa, weil "Zwergindianer" und "Bleichgesichter" oder religiös konnotierte Ausdrücke wie "Beim Barte des Propheten!" nicht mehr vorkommen durften. Auch ein rundliches rosa Schweinchen - im Original Porcmuscle J. Hamfat - wurde umgetauft: von Fridolin Freudenfett in Fridolin Freundlich.

Auch Achim Hölter, Privatdozent an der Abteilung für vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Wien, gefiel das nicht: "Als Philologe sage ich, dass man ein Dokument niemals verändern darf, das ist die erste Regel, weil es Misstrauen schürt, das kollektive Gedächtnis verändert und Geschichtsschreibung unmöglich macht", so Hölter damals zur Kleinen Zeitung.

Mittlerweile ist das, was als "Sensitivity Reading" bezeichnet wird, ein eigenes Geschäftsmodell geworden. Die Text-Prüferin Victoria Linnea und ihre Kolleg:innen von sensitivity-reading.de beschreiben ihre Aufgabe so: "Sensitivity Reader:innen prüfen Texte, aber auch Filme auf verletzende oder missverständliche Darstellungen und Ausdrucksweisen. Es geht dabei nicht darum, Themen zu verbieten oder gar zu zensieren, sondern darum, Autor:innen zu helfen, die richtigen Worte zu finden für das, was sie eigentlich ausdrücken möchten. Es geht um Authentizität und den sensiblen Umgang mit Marginalisierung und Diskriminierung."

Was aber ist authentisch und was sind die richtigen Worte?

So manche Verlage verlassen sich schon gar nicht mehr auf die Empfehlungen ihrer Lektor:innen, sondern lassen Texte zusätzlich auf so genannte Mikroagressionen und das Risiko möglicher "Re-Traumatisierungen" unter die Lupe nehmen. Dieses Risiko tummelt sich in vielen gesellschaftlichen Räumen, die, wenn es nach den Verfechtern der sensiblen Lektüre geht, allesamt zu Schutzräumen werden müssen: Die literarische Darstellung von Religion, LGBTQIA+, Gewalt und Sexismus, Behinderung, Krankheiten, Hautfarbe, Sitten und Gebräuchen muss demnach stets so ausfallen, dass Betroffene sich damit wohlfühlen und in ihren Gefühlen nicht verletzt werden.

So lesen sich für den Lektor und Literaturkritiker Andreas Wirthensohn die Triggerwarnungen in manchen Büchern schon wie "literarische Beipackzettel". Eine Entwicklung, die er für problematisch hält, wie Wirthensohn in einem Essay für die Wiener Zeitung schrieb: "Ob sich hier tatsächlich ein veränderter Anspruch an das Lesen von Literatur abzeichnet oder ob lediglich in vielen Verlagen die Angst vor irgendwelchen Shitstorms im Netz umgeht (nicht zu vergessen die für die Vermarktung immer wichtiger werdenden Lese-Community-Plattformen im Internet wie etwa LovelyBooks) - das lässt sich so eindeutig nicht beantworten", so Wirthensohn, der befürchtet, dass auf diese Weise nur "Wohlfühl-Literatur" geschrieben und publiziert wird.

"Denn wo, wenn nicht im Roman, im Theater, im großen Freiraum der Kultur lassen sich all diese identitären, weltanschaulichen, sprachlichen Kategorisierungen in Frage stellen und auflösen? Nur: Welchen Sinn hat Literatur noch, wenn sie sich erst einmal seitenlang für das eigene Tun entschuldigt? Oder wenn alles Anstößige lieber gleich in einer Art vorauseilendem Gehorsam aus den Texten getilgt wird?"

Erika Thomalla vom Zentrum für Buchwissenschaft an der Universität München hat sich intensiv mit der Arbeit von Sensitivity Readern befasst: "Die Inanspruchnahme der Literatur für Politik, Ethik oder Weltanschauung, die vermeintlich zulasten ästhetischer Komplexität und Vieldeutigkeit geht, stellt für viele Kritikerinnen und Kritiker das Hauptproblem von Sensitivity Reading dar. Die "sensible Lektüre" sei "die moderne und im Zeichen der Diversität aktualisierte Variante einer Praxis, die es - etwa im Feuilletonroman oder bei anderen populären Formaten - schon sehr lange gibt."

Alles schon mal dagewesen also? Natürlich haben Verlage Manuskripte schon immer intern herumgereicht, bekrittelt, gekürzt, auf Marktgängigkeit abgeklopft, Missliebiges umgeschrieben oder gleich in der Schublade verschwinden lassen. Gibt es aber eine Leserschaft, die tatsächlich umfassend von der gedanklichen Sprengkraft eines Buches durch Warnhinweise "geschützt" werden muss? Wie nähern sich Autorinnen und Autoren einem Thema eingedenk der möglichen Prüfung durch Sensitivity reader?

Alexander Musik spricht mit Prof. Dr. Erika Thomalla vom Zentrum für Buchwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München und dem Literaturwissenschaftler und -kritiker, Übersetzer und freien Lektor Dr. Andreas Wirthensohn.

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