
Dominik Barta - ZSOLNAY/LEONHARD HILZENSAUER
Gedanken für den Tag
Verdichtete Erfahrung - Weisheit in Versen
von Dominik Barta, Schriftsteller
3. Februar 2025, 06:57
Der Vers ist das Rückgrat der Weltliteratur. Menschliche Erlebnisse, Einsichten oder Erinnerungen wechselten in Versform von Generation zu Generation, lange bevor die Schrift ihre Herrschaft über den Planeten antrat.
Das den Menschen Wesentliche wurde von mythischen Urheber:innen in Verse verdichtet und direkt vom Mund ins Ohr tradiert. Sein Ursprung im mündlich strukturierten Zusammenleben verlieh dem Vers die gedrungene, rhythmisierte Form. Was es zu sagen und festzuhalten galt, wurde Wort für Wort abgewogen, mit einem Versfuß versehen, und überdies nicht selten durch Reim-Schemen aneinander gefädelt. Durch diese vielfältigen Maßnahmen der Gliederung erhielt der Vers seine charakteristische Gestalt.
Der Trojanische Krieg und Odysseus' Irrfahrten sind uns in griechischen Versen überliefert. Das indische Mahabarata setzt sich aus 200.000 Sanskrit-Versen zusammen. Der Koran ist auch ein literarisches arabisches Versgewebe. Shakespeares Hamlet philosophiert um 1600 in Versen und Goethes Gretchen um 1800 ebenso. Nach dem Siegeszug des kommerziellen Buchdrucks und der literarischen Papierfabriken verliert der aufs Blatt gebannte Vers in Europa buchstäblich an Form und nicht selten verkommt er zur lyrischen Duftmarke von Bildungsbürgern.
Doch wo ihm sein stimmlicher Antrieb erhalten blieb, entfaltet der Vers bis heute seine expressive Kraft: im Gebet, im Radio, vor Publikum, vor allem auch im Lied oder im Song. Die populären Songwriterinnen und Lied-Poeten unserer Tage schmieden unermüdlich Verse, in denen sie die Essenz menschlicher Erfahrung komprimieren und in rhythmisierten Zeilen binden.
Nichts am Vers war je barbarisch. Gute Verse liefern keine Delikatessen, keinen Schwulst, sondern in ihnen zeigt sich ein menschlicher Wunsch nach Präzision, Verdichtung und Gedankenflug. So formuliert Ingeborg Bachmann im Eingangsvers ihres Gedichts "Was wahr ist": "Was wahr ist, streut nicht Sand in deine Augen."
Service
Ingeborg Bachmann, "Sämtliche Gedichte", Piper Verlag
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Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Eleni Karaindrou geb.1939
Gesamttitel: ULYSSES' GAZE / Original Filmmusik
Titel: Ulysses' theme
Anderer Gesamttitel: DER BLICK DES ODYSSEUS / Original Filmmusik
Solist/Solistin: Kim Kashkashian
Solist/Solistin: Vangelis Christopoulos
Solist/Solistin: Andreas Tsekouras
Solist/Solistin: Socratis Anthis
Solist/Solistin: Vangelis Skouras
Solist/Solistin: Christos Sfetsas
Orchester: Streichorchester
Leitung: Lefteris Chalkiadakis
Länge: 01:25 min
Label: ECM 1570 / 4491532