Zwischenruf

Facetten des Alleinseins

von Martin Lintner, Moraltheologe und Ordensmann in Südtirol

Vor einiger Zeit las ich ein Zitat des Schweizer Psychiaters Carl Gustav Jung: "Einsamkeit ist gefährlich. Sie macht süchtig. Wenn du erst einmal merkst, wie friedlich und ruhig dein Leben sein kann, wirst du zukünftig viele Menschen meiden."

Dieser Satz hat mich stutzig gemacht. Ich bin in den vergangenen Wochen wiederholt Menschen begegnet, die mir anvertraut haben, dass sie darunter leiden, sich einsam und allein zu fühlen. In einem ersten Moment habe ich begonnen, verschiedene Formen von Einsamkeit zu sortieren: Es gibt eine Einsamkeit, die ein Mangel an Beziehung und Gemeinschaft ist. Dann fühlen sich Menschen allein und im Stich gelassen. Eine andere Form von Einsamkeit ist, wenn sich Menschen zurückziehen aus Angst vor den anderen, vielleicht weil sie schüchtern sind, unter sozialen Ängsten leiden oder enttäuscht worden sind. Sie fühlen sich isoliert, obwohl sie sich nach Gemeinschaft sehnen.

Und dann gibt es eine Einsamkeit, die ich als eine Grunderfahrung jedes Menschen bezeichnen möchte: Dass jemand allein ist mit sich und dass er es bei sich aushält. Der Münchner Kabarettist Karl Valentin hat einmal gesagt: "Heute besuch ich mich. Ich hoffe, ich bin daheim." Damit hat er treffend zum Ausdruck gebracht, dass sich viele Menschen gar nicht so leicht tun, es mit sich allein auszuhalten. Das setzt ein positives Verhältnis zu mir selbst voraus, dass ich mit mir selbst wertschätzend und wohlwollend umgehe, dass ich mich bei mir selbst daheim fühle.

Wenn dies nicht der Fall ist, können Beziehungen eine Flucht vor mir sein. Damit laufe ich aber Gefahr, dass ich die Bestätigung und Bejahung, die ich mir selbst verweigere, von anderen erhoffe und erwarte. Eine solche Erwartungshaltung kann eine Beziehung belasten. Sie lässt mich nicht frei sein, den anderen so zu sehen, wie er bzw. sie ist, oder - bildhaft formuliert - ihm bzw. ihr in die Augen zu sehen, ohne nach meinem eigenen Spiegelbild in der Pupille des anderen zu suchen. Ich glaube, dass eine gesunde Beziehungsfähigkeit die Fähigkeit voraussetzt, es mit sich allein auszuhalten, mit sich selbst vertraut zu sein bzw. - um es sinngemäß mit Karl Valentin zu sagen - bei sich selbst daheim zu sein.

Doch zurück zum Zitat von C. G. Jung. Ich denke, dass er damit nicht das ungewollte Alleinsein oder die schmerzliche Erfahrung von Isolation gemeint hat, sondern den inneren Frieden und die Ruhe, die jemand empfindet, wenn er es mit sich selbst gut aushalten kann. Das schenkt mir nämlich auch die Freiheit, mich auch einmal zurückziehen zu können und Abstand zu Menschen zu gewinnen. Es kann mir helfen zu spüren, welche Beziehungen mir gut tun und welche mich eher belasten. Dieses "Aushalten mit mir" bedeutet aber nicht, dass das Alleinsein kein Problem mehr ist. Auch wenn ich versuche, der Einsamkeit etwas Positives abzugewinnen, kann sie schmerzen. Die Sehnsucht nach Beziehung bleibt bestehen. Dieses Phänomen gilt es gesellschaftlich ernst zu nehmen. Ich plädiere dafür, vermehrt niederschwellige Begegnungsräume zu schaffen, um der Vereinsamung entgegenzuwirken.

Sendereihe

Gestaltung

Playlist

Komponist/Komponistin: Claude Debussy
Album: CLAUDE DEBUSSY - DAS GESAMTWERK FÜR KLAVIER / DISC 1
* Arabesque Nr.2 (00:03:03)
Titel: Deux arabesques - für Klavier
Solist/Solistin: Jörg Demus /Klavier
Länge: 03:09 min
Label: Amadeo 423273-2

weiteren Inhalt einblenden