Boris Jelzin und Helmut Kohl, 1998

PICTUREDESK.COM/EPA/SERGEI CHIRIKOV

Punkt eins

Deutschland-Russland: Der Bär im Raum

Geschichte und Neubewertung der deutsch-russischen Beziehungen.
Gast: PD Dr. Bastian Matteo Scianna, Historiker, Universität Potsdam. Moderation: Xaver Forthuber. Anrufe 0800 22 69 79 | punkteins(at)orf.at

2014 annektierte Russland völkerrechtswidrig die Krim, seit 2022 tobt ein großflächiger Angriff auf die gesamte Ukraine. Anfang 2025 sehen wir nun "die europäische Sicherheitsarchitektur (...) ebenso in Trümmern wie die einst blühenden ukrainischen Städte". Das schreibt Bastian Matteo Scianna vom Historischen Institut der Universität Potsdam in seinem kürzlich erschienenen Buch "Sonderzug nach Moskau - Geschichte der deutschen Russlandpolitik seit 1990."

Spätestens mit diesen Ereignissen steht auch die langjährige Russlandpolitik Deutschlands, das seit der Wiedervereinigung aus verschiedenen Gründen eine Sonderstellung als Dialogpartner Russlands in Europa hat(te), in Frage. Die Erwartung, Russland zu einem friedlichen und demokratischen Partner modernisieren zu können, habe sich nicht erfüllt, so Scianna. Tatsächlich: Das "alte deutsche Mantra, wonach Frieden und Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen Russland möglich sei", begegnet uns heute eher als Textbaustein Putin-freundlicher Propaganda. Das Ausmaß dieses Wandels ist im politischen Bewusstsein und Handeln der Bundesrepublik durchaus angekommen. Bis heute fehle jedoch eine systematische "Aufarbeitung" der deutsch-russischen Beziehungen im europäischen Kontext, stellt Scianna fest - und legt auf rund 700 Seiten bewusst noch keine solche Aufarbeitung, aber die vielleicht erste umfassende, wissenschaftlich fundierte Bestandsaufnahme vor.

War die unter Helmut Kohl begonnene Strategie der "verflechtenden Aussöhnung", der einladenden Integration Russlands in die internationale Gemeinschaft letztlich naiv angesichts eines Landes, das "seine Sicherheit stets über die Kontrolle seiner Nachbarn definiert hatte"? Welche Rolle spielte die heute wieder oft genannte NATO-Osterweiterung Mitte der 90er Jahre wirklich, und was geschah damals hinter den Kulissen, während Boris Jelzin Tschetschenien angreifen ließ? War die Zustimmung zur Gaspipeline Nord Stream 2 ökonomisch rational und politisch zumindest vertretbar, wie Angela Merkel bis heute beteuert - oder "gab man die Ukraine der Willkür Putins preis"? Gab es je eine konsistente Politik gegenüber - und gemeinsam mit - den ostmitteleuropäischen Nachbarländern wie Polen, den baltischen Staaten oder eben der Ukraine?

Heute ist Deutschland ein ökonomisches und politisches Schwergewicht in der EU und muss auch als solches seine Beziehungen zu Russland neu ordnen. In zwei Wochen stehen vorgezogene Bundestagswahlen an: inmitten des fortgesetzten Ukraine-Krieges und allen anderen weltpolitischen Turbulenzen, innenpolitischer Polarisierung und der Gefahr von Propaganda und externer Einflussnahme. Keiner dieser Faktoren lässt sich mittlerweile erklären, ohne Putins Russland zu nennen.

Zeit für eine Einordnung via Rückblick: Bastian Matteo Scianna ist zu Gast bei Xaver Forthuber. Reden Sie mit: Rufen Sie in der Sendung an unter 0800 22 69 79 oder schreiben Sie ein E-Mail an punkteins(at)orf.at

Service

Buch:
Sonderzug nach Moskau. Geschichte der deutschen Russlandpolitik seit 1990. München: C.H.Beck, 2024.

Sendereihe

Gestaltung

  • Xaver Forthuber