Katharina Stemberger

ORF/JOSEPH SCHIMMER

Gedanken für den Tag

80 Jahre Kriegsende - Daniel Kehlmann

Katharina Stemberger, Schauspielerin, liest aus einer Rede, die Daniel Kehlmann für das "Fest der Freude" 2022 verfasst hat

Mein Vater, geboren im Jahr 1927, sprach immer wieder von der Begeisterung, die ihn überkam, als er im Mai 1945 durch das Kellerfenster draußen auf der Straße das Wort Österreich hörte.

Mein Vater war kein Patriot, er hatte auch keinen Grund dafür. Bis vor wenigen Wochen war er Insasse im Lager Maria-Lanzendorf gewesen, einem Nebenlager von Mordhausen. Der Großteil seiner Familie war abtransportiert und, wie er später erfuhr, getötet worden. Und auch ihn hatte man nur durch eine Reihe glücklicher Zufälle in den Wirren der letzten Kriegswochen freigelassen. Daheim im elterlichen Wohnhaus in der Wiener Schwindgasse hatte er sich, um einer möglichen neuen Verhaftung zu entgehen - denn wie jeder rechtlose Staat war auch jener der Nazis vor allem chaotisch - im Kohlenkeller versteckt. Einmal am Tag brachte seine Mutter ihm Essen.

Immer wieder aber sprach er vom Taumel der Freude, der ihn überfiel, als er draußen plötzlich das Wort Österreich hörte. Denn wenn jemand auf der Straße dieses bislang verbotene Wort einfach so in voller Lautstärke auszusprechen wagte, dann bedeutete das ohne Frage, dass es jetzt wirklich vorbei war. Die Herrschaft der Unmenschen war beendet. Sie waren natürlich noch da, die Unmenschen, und sie würden nicht verschwinden. Sie würden weiter hohe Positionen besetzen, die politische Agenda bestimmen und vermutlich auch dafür sorgen, dass die Vertriebenen keinen Anlass bekamen, in allzu großer Zahl zurückzukehren.

Er war befreit, und das Land, dessen Namen man an diesem Tag zum ersten Mal wieder auf der Straße aussprechen konnte, war es auch. Es ist nur wichtig, sich zu erinnern, dass die, die einmal staatlich erlaubte Verbrechen begingen, es unter passenden Umständen auch wieder tun würden. Dass die Menschen immer zu unverlässlich und korrumpierbar sind, und zwar in jeder Generation, überall. Und so ging mein Vater an jenem Maimorgen hinaus aus dem Kohlenkeller, trat auf die Gasse und atmete die milde Luft ein. Das Wetter war passenderweise schön, man roch den Frühling.

Service

Mauthausen Komitee Österreich

Gedanken für den Tag als Podcast abonnieren
Texte zum Fest der Freude als Podcast abonnieren

Sendereihe

Gestaltung

Übersicht

Playlist

Komponist/Komponistin: François Couturier geb.1950
Komponist/Komponistin: Anja Lechner geb.1961
Komponist/Komponistin: Jean-Louis Matinier geb.1963
Komponist/Komponistin: Jean-Marc Larché geb.1961
Album: TARKOVSKY QUARTET - FRANÇOIS COUTURIER
Titel: La main et l'oiseau/instr.
Ausführende: Tarkovsky Quartet
Solist/Solistin: François Couturier
Ausführender/Ausführende: Anja Lechner
Ausführender/Ausführende: Jean-Louis Matinier
Ausführender/Ausführende: Jean-Marc Larché
Länge: 03:07 min
Label: ECM Records 2159 / 2742526

weiteren Inhalt einblenden