
ORF/HUBERT MICAN
Punkt eins
Der lange Schatten des Homo sovieticus
Nachwirkungen der Doktrin eines untergegangenen Staates. Gast: Vladimir Vertlib, Schriftsteller, Publizist. Moderation: Alexander Musik. Anrufe 0800 22 69 79 | punkteins(at)orf.at
30. Juni 2025, 13:00
Wladimir Putin lüge seine Landsleute an und baue seine Macht auf deren Sklavenmentalität, sagte die in der Ukraine geborene, mittlerweile im Exil in Deutschland lebende Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung. Was diese "Sklavenmentalität" umfasst, führt Alexijewitsch in ihrem Reportagebuch "Secondhand-Zeit - Leben auf den Trümmern des Sozialismus" aus: "In den etwas über siebzig Jahren ist im Laboratorium des Marxismus-Leninismus ein neuer Menschentyp entstanden: der Homo sovieticus. (.) Der Homo sovieticus, das sind nicht nur Russen, das sind auch Weißrussen, Turkmenen, Ukrainer, Kasachen . Heute leben wir in verschiedenen Staaten, aber wir sind unverwechselbar. Man erkennt uns auf Anhieb! Wir alle, die Menschen aus dem Sozialismus, ähneln einander und sind anders als andere Menschen - wir haben unsere eigenen Begriffe, unsere eigenen Vorstellungen von Gut und Böse, von Helden und Märtyrern. Wir haben ein besonderes Verhältnis zum Tod."
Der 1966 im früheren Leningrad geborene Schriftsteller Vladimir Vertlib kennt die Mentalität des Homo sovieticus - nicht zuletzt aus den schmerzlichen Erfahrungen, die seine Familie damit gemacht hatte. Sie wanderte 1971 aus der Sowjetunion aus; eine Odyssee, die Vertlib über Israel, Italien, die Niederlande bis in die USA führte. 1981 ließen sich die Vertlibs dann in Österreich nieder.
"Verstehen hingegen möchte ich zum Beispiel", sagt Vertlib in seinem demnächst erscheinenden Essayband "Juden sind auch nicht anders", "warum in Russland und anderswo kreative Menschen, Geistesmenschen, Künstlerinnen und Künstler, sich für das Unrecht aussprechen. Warum unterstützen sie einen Angriffskrieg, bezeichnen die Ukraine - wider besseres Wissen - als Naziland und verkünden dies mit stolzer Überzeugung sogar auch noch öffentlich?"
Angst und Opportunismus treiben den Homo sovieticus an, heißt es in dem gleichnamigen Buch des russischen Dissidenten Alexander Sinowjew von 1982, und der Wunsch, möglichst wenig individuelle Verantwortung zu übernehmen. Zudem habe er nach dem Willen der Staatsführung weder eine eigene Identität noch nationale Wurzeln. Seine Heimatadresse: die Sowjetunion.
Inwieweit lebt der Homo sovieticus 2025 fort und ist mitverantwortlich für den Krieg Russlands gegen die Ukraine, der auch im vierten Jahr kein Ende zu finden scheint? Lässt sich so erklären, warum es augenscheinlich so wenig Widerstand im Land gegen die unermüdliche, vom Kreml gesteuerte Propaganda-Maschinerie gegen die Ukraine und den Westen gibt? Und: Finden sich Spuren des Homo sovieticus nicht auch weiter westlich und deuten darauf hin, dass die Mauer in den Köpfen so mancher Menschen noch gar nicht gefallen ist?
Alexander Musik diskutiert mit dem Schriftsteller und Publizisten Vladimir Vertlib über den langen Schatten des Homo sovieticus und dessen Einfluss auf den Ukraine-Krieg.
Wie immer sind Sie eingeladen mitzudiskutieren: Rufen Sie an unter 0800 22 69 79 kostenfrei aus ganz Österreich und live während der Sendung oder schreiben Sie ein E-Mail an punkteins(at)orf.at
Sendereihe
Gestaltung
- Alexander Musik
Playlist
Untertitel: Andrej Makarewitsch
Titel: Nenn mir wenigstens einen Grund
Ausführende: Maschina Wremeni
Label: Sintez Records
Untertitel: Andrej Makarewitsch
Titel: Hier lebte keine Liebe
Ausführende: Maschina Wremeni
Label: Sintez Records
Untertitel: Andrej Makarewitsch
Titel: Ich träume vom grauen Meer
Ausführende: Maschina Wremeni
Label: Sintez Records
Urheber/Urheberin: Alexander Musik
Titel: Moderation
Länge: 47:33 min