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Gedanken für den Tag
Ein Clown als Glaubensvorbild
Johannes Modess, evangelischer Pfarrer, zum 40. Todestag von Heinrich Böll
18. Juli 2025, 06:57
Heute sieht man Bölls 1963 erschienenen Roman "Ansichten eines Clowns" als ersten Anflug der 68er-Bewegung. Und ein protestantischer Clown schien Böll wohl die angemessene Figur zu sein, der jungen Bundesrepublik Deutschland diesen Protest vorzuleben. Ordnungsliebe, scheinbarer Anstand und nur noch löchrige Erinnerungen an die Verbrechen der eigenen Geschichte, all das prangert Hans Schnier, Bölls Hauptfigur, in seiner Clowns-Existenz an.
Seine geliebte Marie verlässt ihn, als er sich weigert, zu unterschreiben, dass er potenzielle Kinder katholisch erziehen würde - und heiratet stattdessen lieber einen anständigen Katholiken. Für den Clown Schnier beginnt damit ein Leben mit zunächst immer weniger Applaus, dann immer mehr Alkohol und infolgedessen fast ohne weitere Engagements.
Daneben durchzieht den Roman eine Ahnung: Ist nicht vielleicht der Clown der wahre Christ? Schließlich zeigt er wie ein Hofnarr die Aporien eines bürgerlichen Christentums auf, das sich mit den Mächtigen und der Macht verbindet und so Macht über Menschen ausübt, statt Menschen zu ermächtigen. In seinem existenziell vorgelebten Protest dagegen lässt Böll durch seinen Clown "eine andere Kirche aufscheinen" (Jürgen Springer).
Und der stellt sich damit in eine Reihe christlicher Narren, die glaubend zwischen den Zeilen ihrer Welt gelebt haben. Von Paulus, den ein Biograf einmal einen "Clown für Christus" nannte, bis hin zu Sören Kierkegaard, der als Philosoph in Kopenhagen fast darum bettelte, von einer Satirezeitschrift angegriffen zu werden, weil er meinte, dass nur der verspottete Narr ein wahrer Christ sein könne. Hans Schnier lebt es vor: Wer in einer unmenschlichen Welt allzu menschlich lebt, gerät vor die Hunde, wird zum Clown - und, daran glaube ich mit Böll, zeigt gerade damit eine wichtige Seite des christlichen Glaubens.
Service
Heinrich Böll, "Ansichten eines Clowns. Roman", Kiepenheuer & Witsch
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Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Yann Tiersen geb.1970
Gesamttitel: GOOD BYE, LENIN / Original Filmmusik
Titel: Father and mother
Solist/Solistin: Yann Tiersen
Solist/Solistin: Pierre Pirosino Gravallon
Länge: 02:54 min
Label: Labels/EMI 5820202