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Gedanken für den Tag
Friedrich Nietzsches Stil
Gerald Hödl, Religionswissenschaftler, zum 125. Todestag
21. August 2025, 06:57
"Glattes Eis, ein Paradeis für den, der gut zu tanzen weiß". Ein schöner kleiner Spruch von Nietzsche, der nur wenige Abhandlungen geschrieben hat. Die meisten seiner Schriften bestehen aus kurzen literarischen Formen - Aphorismen, Gedichten, Parabeln, Reflexionen.
In dem zitierten Spruch kann man eine Reflexion auf seinen Denkstil sehen. Er schreibt nicht für den dümmsten anzunehmenden Leser. Er lässt vieles offen, lässt die Leser:in weiterdenken, sich ihren Reim auf das machen, was hier steht. Nietzsche kompromittiert den Leser. Welchen Reim Du Dir auf das machst, was du liest, zeigt, wer Du bist.
Wohl eine Erklärung für die vielgestaltigen Interpretationen seiner Werke. Wer hat sich nicht aller auf ihn berufen. Auch solche, die sehen hätten müssen, dass er für sie nicht zu vereinnahmen ist. Haben die deutschen Junker gelesen, was er über die Deutschen geschrieben hat? Haben die Antisemiten gelesen, wie deutlich er die Antisemiten verachtet? Noch, als er in Turin in Umnachtung fiel, schrieb er: "Lasse soeben alle Antisemiten füsilieren". Hat je ein Antisemit die positiven Äußerungen über Jüdinnen und Juden gelesen?
Natürlich, im Zuge seiner Religionskritik wird auch die jüdische Religion des zweiten Tempels kritisiert. Aber nicht aus rassistischen Gründen, sondern im Zuge der Kritik des Priestertums. Man kann sich fragen, ob die Aufforderung zum Tanz auf glattem Eis an die Leser:innen nicht doch eine bedenkliche Seite zeigt. Hat er mit oft zugespitzten Formulierungen, die gerne mal alles umkehren, umwenden, von der anderen Seite aus sehen, nicht selbst dem Missverständnis zugearbeitet?
Lesen ist jemanden neben sich denken zu lassen, hat er einmal geschrieben. Und dass seine Bücher nicht in einem Zug zu lesen sind. Sondern: mal hineinlesen, Kopf wieder herausstrecken und so weiter. In einen Dialog mit dem, der neben einem denkt, treten. Und man sollte auch nicht alles bierernst nehmen. Nietzsche hatte nämlich Humor, wie schon der kleine Spruch für Tänzer zeigt. Wer Nietzsche liest und nicht ab und zu laut lacht, hat Nietzsche nicht gelesen.
Service
Friedrich Nietzsche, "Die fröhliche Wissenschaft", Reclam 2024
Friedrich Nietzsche, "Also sprach Zarathustra", Reclam 2023
Friedrich Nietzsche, "Ecce homo", Anaconda 2025
Christian Tietz, "Nietzsche. Leben und Denken im Bann des Christentums", C. H. Beck 2025
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Sendereihe
Gestaltung
Playlist
Komponist/Komponistin: Kyrre Kvam
Gesamttitel: ALTES GELD
Titel: Altes Geld - Chloroform
Ausführende: Kyrre Kvam
Länge: 01:00 min
Label: ORF-Enterprise Musikverlag