Gratwanderung des Erinnerns

19. November 2025, 06:57

"Je n'aime pas l'expression devoir de mémoire" "Ich mag den Ausdruck Erinnerungspflicht nicht", hat die französische Holocaust-Überlebende Simone Veil gesagt. Es ist eines meiner liebsten Zitate von ihr. Simone Veil hat die Schrecken der Konzentrationslager am eigenen Leib erfahren; sie hat Auschwitz überlebt und Bergen-Belsen. Nach dem Krieg ist sie als Juristin, Politikerin und erste Präsidentin des Europäischen Parlaments bekannt geworden.

Gerade als Überlebende des Holocaust hätte Simone Veil allen Grund gehabt, für die Nachkriegsgesellschaft eine moralische Verpflichtung des Holocaust-Gedenkens zu postulieren. Doch sie war eine Frau mit Weitblick und mit einem tiefen Verständnis für die Natur des Menschen. Sie hat verstanden: dass Erinnern und Gedenken nicht etwas sind, das eingefordert werden kann; dass eine moralische Verpflichtung zum Gedenken nur leere Worte, hohle Formalakte schaffen und den Akt des Erinnerns entwerten würde.

Ich denke, die Erinnerung zu bewahren und lebendig zu halten, erfordert Behutsamkeit. Es ist eine Gratwanderung. Ein Balanceakt zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig. Ich erlebe das oft, wenn ich mit jungen Menschen über die Zeit des Nationalsozialismus spreche. Der Druck, sich mit der NS-Vergangenheit zu befassen, kann Abwehr erzeugen.

Erst wenn sie verstehen wollen - aus sich heraus, aus einem tieferen Verständnis und dem eigenen Bedürfnis, um eine bessere Gesellschaft aufzubauen - erst dann kann Gedenken gelingen. Simone Veils Zitat geht so weiter: "Le seul devoir, c'est d'enseigner et de transmettre." "Die einzige Pflicht besteht darin, zu lehren und weiterzugeben." Wir können nur die Fakten der Geschichte weitergeben. Die Schlussfolgerungen und Lehren daraus muss jede Generation für sich selbst ziehen.

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