Punkt eins

Rainer Maria Rilke zum 150. Geburtstag

Der "ästhetische Christus" aus Prag. Gast: Sandra Richter, Germanistin, Leiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach. Moderation: Alexander Musik. Anrufe 0800 22 69 79 | punkteins(at)orf.at

2022 gelang dem Deutschen Literaturarchiv Marbach ein Coup: der Ankauf des Nachlasses eines der wichtigsten Autoren der Moderne, fast 100 Jahre in Privatbesitz und damit so gut wie unzugänglich: der Nachlass Rainer Maria Rilkes. Literaturarchiv-Leiterin Sandra Richter, Germanistin und ausgewiesene Rilke-Kennerin und -Liebhaberin, sprach damals von einem "sensationellen Bestand" und einem "überwältigenden Nachlass".

8.800 Briefe, 470 Bücher und Zeitschriften, 131 bisher unbekannte Zeichnungen Rilkes und 360 Fotografien aus allen Lebensphasen umfasst der Bestand, welcher der interessierten Öffentlichkeit nun zugänglich ist. Und auch Richter selbst, versteht sich, die diese Quellen in ihre heuer erschiene Rilke-Biographie einfließen lassen konnte.

Somit stellt sich auch 2025 - am 4. Dezember wird Rilkes 150. Geburtstag gefeiert - die Frage: Was für ein Mensch war dieser Dichter, den Robert Musil in seiner Gedenkrede im Berliner Renaissance-Theater am 16.1.1927 (Rilke war am 29. Dezember 1926 verstorben) so beschrieb: "Dieser große Lyriker hat nichts getan, als dass er das deutsche Gedicht zum ersten Mal vollkommen gemacht hat; er war kein Gipfel dieser Zeit, er war eine der Erhöhungen, auf welchen das Schicksal des Geistes über Zeiten wegschreitet … Er gehört zu den Jahrhundertzusammenhängen der deutschen Dichtung, nicht zu denen des Tages."

Verehrt von einer in ganz Europa verteilten Schar großteils wohlhabender weiblicher Musen, verklärt zum weltabgewandten Einsiedler, vereinnahmt und verunglimpft gleichermaßen: Martin Heidegger etwa nutzte Rilkes "hohen Ton", um ihn seinem eigenen "Ideenhimmel" einzugemeinden; Theodor W. Adorno dagegen "stempelte Rilkes Gedichte als protofaschistisch ab", wie Sandra Richter im Vorwort ihrer Biographie schreibt. Ihr Fazit: "Beide Philosophen haben Rilke gezielt missverstanden."

Heute, mehrere Jahrzehnte später, erscheint dieser Prager Dichter deutscher Sprache, dem seine Geburtsstadt wie überhaupt das alte Österreich bald zu klein wurde, künstlerisch so modern, vielschichtig - und widersprüchlich - wie selten zuvor: Rastlos auf der Suche zwischen Rom, Ägypten, Tunis, Moskau, Paris, dem spanischen Ronda, Skandinavien, Worpswede, München und der Schweiz. Ein Anhänger des einfachen Lebens und doch höchst empfänglich für elegante Damen, edle Stoffe, ausgesuchte Möbel und Landschaften. Die Schweizer Berge allerdings gehörten nicht dazu, denn "gleißende Schönheit fand er beinahe geschmacklos und kommentierte sie ironisch" - und zog die Vorhänge seines Coupés zu, wenn er durch die Schweiz kam, schreibt Sandra Richter.

Lieber war ihm Paris, wo Rilke litt - er sah sich "als eine Art ästhetischer Christus, der für andere leidet", wie Sandra Richter in einem Interview mit dem Magazin des Goethe-Instituts sagt. In Paris spielt auch einer der ersten formal bahnbrechenden modernen Romane, Rilkes "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge"; ein Buch, das nicht zuletzt das Leiden an der technisierten menschenfeindlichen Metropole in Szene setzt.

Vielleicht hätte das Wort vom "ästhetischen Christus" Robert Musil gefallen. In seiner Gedenkrede von 1927 heißt es: "Er war in gewissem Sinn der religiöseste Dichter seit Novalis, aber ich bin nicht sicher, ob er überhaupt Religion hatte. Er sah anders. In einer neuen, inneren Weise. Und wird einst, auf dem Weg, der von dem religiösen Weltgefühl des Mittelalters über das humanistische Kulturideal weg zu einem kommenden Weltbild führt, nicht nur ein großer Dichter, sondern auch ein großer Führer gewesen sein."

Alexander Musik spricht mit der Germanistin und Leiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, Sandra Richter, über den Menschen und die Bedeutung des Werkes Rainer Maria Rilkes für die heutige Zeit.

Wie immer sind Sie eingeladen, sich an der Sendung zu beteiligen. Kostenlos aus ganz Österreich können Sie uns unter 0800 22 69 79 erreichen; oder Sie schreiben uns ein Mail an punkteins(at)orf.at

Was bedeutet Ihnen die Lyrik Rainer Maria Rilkes? Sind Sie mit dem "Panther" oder dem "Herbsttag" groß geworden? Ist Rilke vor allem ein glühender selbstloser Europäer avant la lettre oder doch auch ein durchaus berechnender Profiteur geistig und körperlich bedürftiger Frauen mit Immobilien-Besitz? Oder sind das alles ungültige Kategorien angesichts des einmaligen Werkes, das Rilke hinterlassen hat?

Service

Sandra Richter: Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben. Eine Biographie. Insel Verlag, 2025.

Weitere Sendungen im Programm von Österreich 1:
30.11. Du holde Kunst: "Und verschwendet an dieses atemlose blinde Spiel" - Joseph Lorenz liest Dinggedichte von Rainer Maria Rilke (150 GT. am 04.12.). Gestaltung: Gudrun Hamböck und Stefanie Maderthaner
1.-6.12. Gedanken für den Tag
2.12. Tonspuren: Das Leiden an einer großen Liebe". Rainer Maria Rilke in Paris - zum 150. Geburtstag eines großen Europäers. Feature von Alexander Musik, (WH v. 22.04.2025)
3.12. Im Fokus: Vom Leben erleuchtet - Das Religiöse bei Rainer Maria Rilke
4.12. Stimmen hören: Rainer Maria Rilke - vertont. Hindemith, Martin, Berg: Komponistein des 20. Jahrhunderts und die Herausforderung Rilke
8. - 11.12. Radiokolleg: Rilke - Die Wiederverzauberung der Welt. Gestaltung: Günter Kaindlstorfer

Sendereihe

Gestaltung

  • Alexander Musik