Hannah Arendt

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Punkt eins

Die Gegenwart der Hannah Arendt

Zum 50. Todestag von Hannah Arendt: Leben und Denken in ständiger Bewegung. Gäste: Prof. Dr. Anne Eusterschulte, Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin & Prof. Dr. Thomas Meyer, Philosoph an der Ludwig-Maximilians-Universität München und freier Autor. Moderation: Marina Wetzlmaier. Anrufe 0800 22 69 79 | punkteins(at)orf.at

Hannah Arendt lebte und schrieb in einer Zeit, in der es für die Dimensionen der Verbrechen im Nationalsozialismus keine Sprache und keine Erklärungen gab. In ihrem Bestreben zu verstehen, kam sie mit den herkömmlichen philosophischen und politischen Theorien nicht aus. Die jüdische Denkerin Hannah Arendt entwickelte ihre eigenen Begriffe, die vor allem heuer zu ihrem 50. Todestag am 4. Dezember, omnipräsent sind: die "Banalität des Bösen", "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", das "Denken ohne Geländer".

Mit ihren Analysen sorgte sie für Kontroversen und war dennoch wegbereitend für die spätere Forschung. Sie zählt zu den meist-besprochenen Autorinnen. Hannah Arendt sei aktueller, denn je, ist derzeit vielfach zu lesen, gefolgt von der Frage: Was würde Hannah Arendt sagen? Über die gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen unserer Zeit, über den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, den Rechtsruck in Europa, die Politik Donald Trumps bis zum Krieg in Gaza. Aber ist diese Frage zulässig? War Hannah Arendt doch eine politische Denkerin, für die das Gegenwärtige so zentral war. Für die der Mensch sich weder seiner Vergangenheit ausliefern noch alle Hoffnung in die Zukunft setzen dürfe. Sie überarbeitete und dachte ihre Schriften laufend weiter, denn neue Situationen erforderten neue Interpretationen.

Auf diese Weise hinterließ sie ein voluminöses Gesamtwerk, das Forscher:innen unter der Leitung der Freien Universität Berlin in einer Kritischen Gesamtausgabe zum ersten Mal vollständig und kommentiert öffentlich zugänglich machen möchten. Rund 21.000 Buch-, Aufsatz- und Manuskriptseiten werden dafür bearbeitet und damit nicht nur Arendts zu Lebzeiten veröffentlichte Werke, sondern auch unveröffentlichte Dokumente aus dem Nachlass präsentiert. Ein crossmediales Projekt, das von 2018 bis 2032 läuft und begleitend zu den Printausgaben eine digitale Plattform umfasst. Auf diese Weise wird die Genese von Arendts Werken nachvollziehbar, erklärt Anne Eusterschulte, Professorin für Philosophie an der FU Berlin und Mitherausgeberin der Kritischen Gesamtausgabe.

Leben und Werk von Hannah Arendt sind eng miteinander verbunden. Als promovierte Philosophin ging sie früh neue Wege, kam vom Denken ins Handeln, das wiederum ihr Denken beeinflusste. "Ich glaube nicht, dass es irgendeinen Denkvorgang gibt, der ohne persönliche Erfahrung möglich ist. Alles Denken ist Nachdenken, der Sache nach - denken", sagte sie in ihrem berühmten Fernsehinterview mit dem deutschen Journalisten Günter Gaus im September 1964. Laut dem Philosophen Thomas Meyer fasst diese Aussage Hannah Arendts Werk "überzeugend zusammen". Meyer beschäftigt sich intensiv mit Arendts Biografie und besuchte während seiner Recherchereise Stationen ihres bewegten Lebens.

Geboren wurde Arendt 1906 in Hannover, aufgewachsen ist sie in Königsberg, wo sie bereits als Schulkind mit Antisemitismus konfrontiert war. Sie studierte zunächst in Marburg bei Martin Heidegger, promovierte in Heidelberg bei Karl Jaspers. Sie beschäftigte sich zunehmend mit dem Antisemitismus in der Gesellschaft und der Machtübernahme der Nationalsozialisten, wurde verhaftet und flüchtete zunächst nach Paris, wo sie sich für jüdische Kinder und Jugendliche engagierte. In Frankreich wurde sie im Lager Gurs interniert, kam frei und emigrierte schließlich nach New York, wo ihre Hauptwerke "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" und "Vita Activa oder Vom tätigen Leben" entstanden. Immer mit Blick auf die Ereignisse in Europa und der Welt, mit Reflexionen über Menschlichkeit, Handeln, Denken und Freiheit. Zum Zeitpunkt ihres Todes am 4. Dezember 1975 arbeitete sie an ihrem letzten Buch "Vom Leben des Geistes".

Wie können nachfolgende Generationen ihre Theorien weiterdenken und hilft dies dabei, die Gegenwart zu verstehen? Warum waren Arendts Analysen und Aussagen zu ihren Lebzeiten so kontrovers? Wo betrat sie Neuland? Wie wurde sie zur "Ikone der Philosophie", zum Star unter den Intellektuellen des 20. Jahrhunderts? Wer war Hannah Arendt?

Darüber spricht Marina Wetzlmaier mit Anne Eusterschulte, Professorin für Philosophie an der Freien Universität Berlin, Thomas Meyer, Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und mit Ihnen. Rufen Sie an unter 0800 22 69 79 (kostenfrei innerhalb von Österreich) oder schreiben Sie uns per E-Mail an punkteins(at)orf.at

Service

Thomas Meyer, "Hannah Arendt. Die Biografie". Piper Verlag, 2023

Hannah Arendt. Kritisch Gesamtausgabe, Wallstein Verlag

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