Radiokolleg
Rilke - Die Wiederverzauberung der Welt (3)
Religion nach dem Tod Gottes
11. Dezember 2025, 09:05
"Gott ist tot": Es war der Philosoph Friedrich Nietzsche, der dem christlich-jüdischen Monotheismus in den 1880er-Jahren das Totenglöckchen geläutet hat. An den "lieben Gott", der "alles so herrlich regieret", glaubten in der Zeit um 1900 immer weniger Menschen, geschweige denn Intellektuelle - und auch Rainer Maria Rilke tat es nicht. Dennoch war der Schöpfer der "Duineser Elegien" ein tief religiöser Mensch - im pantheistischen Sinn. Für Rilke stand Gott nicht ÜBER der Welt, er manifestierte sich IN ihr. Die Natur und ihre Erscheinungen - vom unschuldigen Maiblümchen bis zu den erhabensten Alpengipfeln: in Rilkes Augen sind alle diese Dinge göttlich durchdrungen.
Und so hat der Dichter im Laufe seines Lebens Techniken der Versenkung erfunden, die darauf hinausliefen, sich "in das Sein der Dinge" einzufühlen. Durch genaues, geduldiges Schauen - auf einen Apfelbaum oder einen Panther im Käfig zum Beispiel - sollte sich dem Betrachter das "Wesen der Dinge" offenbaren. Es ginge darum, so Rilke, nicht "auf" die Natur, sondern "in" sie hineinzuschauen. Das Sehen, Hören, Fühlen, Atmen wird so zum sakralen Ereignis.
Auch der Dichtung selbst wies Rilke eine religiöse Funktion zu: Sie wird bei ihm zu einer Form des Gebets. Und der Künstler, die Bildhauerin, der Dichter? In Rilkes Kunstreligion werden sie zu Priestern der Dinge, zu Meisterinnen und Meistern der Verwandlung, die das Unsichtbare sichtbar machen.
"Rilke hat viele Mystiker gelesen", resümiert der an der Uni Basel lehrende Literaturwissenschaftler Manfred Koch: "Meister Eckhart und Angelus Silesius zum Beispiel. In seinen Dichtungen wie im Leben ging es ihm darum, sein Ich und alle Objektivitäts-Vorstellungen hinter sich zu lassen und sich ganz und gar hineinzuversetzen in das Spiel der Naturkräfte."
Service
Radiokolleg-Podcast
Manfred Koch: "Rilke - Dichter der Angst - Eine Biographie", C. H. Beck, München, 560 Seiten,
Sandra Richter: "Rainer Maria Rilke oder Das offene Leben", Insel-Verlag, Berlin, 478 Seiten,
Gunnar Decker: "Rilke - Der ferne Magier - Eine Biographie", Pantheon-Verlag, München, 608 Seiten,
Rüdiger Schaper: "Rainer Maria Rilke - Der Prophet der Avantgarde", Verlag Theiss in Herder, Freiburg im Breisgau, 288 Seiten
