Declercks Beitrag zur französischen Armutsdebatte

Wie viel Armut braucht eine Gesellschaft?

Patrick Declerck hat 15 Jahre in Betreuungseinrichtungen für Obdachlose gearbeitet. Seine Bilanz: Im französischen Wohlfahrtssystem läuft einiges schief. In einer Streitschrift polemisiert er gegen eine Opferkultur des Mitleids und der Abschreckung.

Patrick Declerck ist zornig. Zornig auf die französische Politik, das Wohlfahrtsystem, die Hilfsorganisationen und die Medien. "Wie viel Armut braucht eine Gesellschaft?", fragt der aus Belgien stammende Psychoanalytiker und Ethnologe. Und er antwortet 2005 mit der Streitschrift: "Le sang nouveau est arrivé" (Das neue Blut ist angekommen), eine Anspielung auf eine christlich verbrämte Opferkultur, die mit Mitleid und Abschreckung operiert.

Das neue Blut, so Declerck, das sind die Armen. Die Gesellschaft braucht sie. Als Gegenstand kollektiver Betroffenheit. Als symbolische Grenze: Um sich von ihnen abzugrenzen, um sie auszugrenzen. Und der Ärmste unter den Armen, so Declerck, der Obdachlose, wird als Bodensatz der Gesellschaft zur Figur in einem moralischen Lehrstück:

Er bekleidet eine Position und Funktion in der Gesellschaft. Er spielt auf der Bühne des gesellschaftlichen Theaters eine doppelte und essenzielle Rolle. Jene des Opfers und jene des abschreckenden Beispiels. Er ist die moderne Version der gefolterten Körper, die in früheren Zeiten an der Place de Grève, wo die meisten Hinrichtungen stattfanden, verfaulten. Die unausweichliche Demonstration des Preises für die Überschreitung der Norm. (...) Lassen wir uns nicht täuschen: Das Leid der Armen und Verrückten ist organisiert, inszeniert und notwendig. Es ist der Preis für die gesellschaftliche Ordnung.

Ernüchterung nach 15 Jahren Sozialarbeit

"Le sang nouveau est arrivé" ist ein Pamphlet. Radikal, unerbittlich, sarkastisch. Als der Text bei Gallimard erschien, war Patrick Declerck in Frankreich längst kein Unbekannter mehr. 2001 hatte er ein viel beachtetes Buch über die Pariser Clochards mit dem Titel "Les Naufragés" (Die Gestrandeten) veröffentlicht, eine Bilanz seiner 15-jährigen Tätigkeit in Betreuungseinrichtungen für Obdachlose und sozial Benachteiligte. Ungewohnt schonungslos und weit entfernt von wohlmeinenden Klischees.

Das französische Wohlfahrtssystem, so Declerck, sei ineffizient. Die Maßnahmen der staatlichen Institutionen und Hilfsorganisationen ein Tropfen auf dem heißen Stein. Nachhaltige Hilfe gebe es hingegen nicht. Nach einer Nacht im Asyl überlässt man die Leute wieder ihrem Schicksal.

Almosen statt sozialem Auffangnetz

In Frankreich wird die Zahl der Obdachlosen zwischen 86.000 und 100.000 geschätzt. Viele von ihnen haben von Jugend an zu den Verlierern gehört: Sie kommen aus prekären sozialen Verhältnissen, wurden Opfer familiärer Gewalt, sind wegen Krankheit oder Unfällen aus dem Arbeitsprozess ausgeschieden. Für diese Gestrandeten, so Declerck, gebe es kein soziales Auffangnetz, sondern Almosen. Ein politisches Versagen, hinter dem Declerck ein System vermutet.

In "Le sang nouveau est arrivé" formuliert er eine provokante These: Armut wird sichtbar gemacht und bis zu einem gewissen Grad sogar inszeniert, um eine Lektion zu erteilen. Deren Botschaft: Wer die Norm verlässt, wer keine Arbeit hat, endet im Elend. Braucht eine kapitalistische Leistungsgesellschaft als Instrument kollektiver Disziplinierung tatsächlich Verlierer?

Opferkultur und Entertainment

Declercks Polemik wendet sich auch gegen die Betroffenheitsrituale einer Gesellschaft, deren voyeuristischer Appetit auf den Schmerz der Anderen nicht gestillt werden kann:

Unter den vielen grässlichen Solidaritätsbekundungen inmitten scheinheiliger Banalität gibt es eine besonders unausstehliche: Fernsehshows, die einem karitativen Zweck dienen. Man gibt dort einigen "Prominenten" die Möglichkeit, mit ihrem Wissen aufzutrumpfen und stellt ihnen scharfsinnige Fragen nach der Art: "Welche Farbe hat das weiße Pferd Heinrichs IV.? Wollen Sie einen Telefonjoker oder ziehen Sie es vor, das Publikum zu befragen?" Auf diese Weise spielt man um beträchtliche (aber nicht zu hohe!) Summen, die für diverse Hilfsorganisationen bestimmt sind. Für die Verzweifelten. (...) Die Repräsentanten der Hilfsorganisationen sind da, in der ersten Reihe. Man erkennt sie leicht. Sie sind am schlechtesten angezogen. Sie nicken. Sie bedanken sich mit einem Lächeln.(...) Ihre Rolle ist bedeutend. Sie liefern einen Hauch von Gewichtigkeit und Ernsthaftigkeit. Sie repräsentieren das Leid. Ohne sie gäbe es keinen wahren Spaß. Keine Massenbelustigung ohne ein bisschen Blut. (...) Es lebe das Soziale!

In "Le sang nouveau est arrivé" spart Patrick Declerck nicht mit Sarkasmus. Die Gesellschaft braucht Armut, sagt Declerck. Als vorweihnachtlich ausgeweidetes Sujet. Als Stoff politischer Sonntagsreden. Als Skandal. Was, wenn Declerck Recht behielte und die marktschreierisch zur Schau gestellten Gesten der Solidarität und des Humanismus nur dazu dienten, das schlechte Gewissen der Mittelschicht zu beruhigen?

Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 28. April 2007, 17:05 Uhr

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Buch-Tipps
Patrick Declerck, "Les Naufragés. Avec les Clochards de Paris", Collection Terre Humaine Poche, Pocket, ISBN 2266129899

Patrick Declerck, "Le sang nouveau est arrivé", Gallimard, ISBN 2070774619