Weh dem, der lügt - Teil 2

Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht

Dieses Sprichwort erinnert uns daran, dass die Lüge zur schärfsten Waffe gegen das Vertrauen werden kann und die Lüge die Glaub- und Vertrauenswürdigkeit zerstören kann. Entscheidend ist jedoch immer die Absicht, die sich hinter der Unwahrheit verbirgt.

Durch Lügen kann man nicht nur sich oder anderen Schaden zufügen, Lügen hat schon viele Menschen vor Schaden bewahrt oder gar Leben gerettet. Das durch den Anspruch auf unbedingte Wahrhaftigkeit/Aufrichtigkeit ein nicht minderer Schaden als durch Unaufrichtigkeit und Lügen angerichtet werden kann und wie das Ideal der unbedingte Aufrichtigkeit zu lebensfremden Fanatismus mutieren kann, das führt uns der norwegische Dramatiker Henrik Ibsen, ein Meister im Entlarven von Lügen, in seinem Schauspiel "Die Wildente" vor.

Wenn die volle Wahrheit die letzte Hoffnung nimmt

Wie der Schweizer Schriftsteller Max Frisch meinte, kann man einem Menschen die Wahrheit wie ein nasses Tuch ums Gesicht schlagen oder wie eine Jacke anbieten, in die er hinein schlüpfen kann. Die Wahrheit wie eine Jacke anzubieten, in die der andere hineinschlüpfen kann - dies erwartet man sich von Ärzten, wenn sie todkranken Patienten die Wahrheit über die Schwere ihrer Krankheit sagen müssen.

An sich haben Patienten ein Recht auf die "volle Wahrheit", sagt der Krebsarzt und Palliativmediziner Johannes Bonelli, aber wer wisse sie schon, die volle Wahrheit etwa darüber, wie lange ein Patient noch zu leben hat. Vielfach würden Ärztinnen und Ärzte aber so agieren, meint Johannes Bonelli, als seien sie im Besitz der "absoluten Wahrheit".

Wenn Patienten informiert werden wollen, wie es um sie stehe, dann hätten sich Ärzte immer zu fragen, was muss ich dem Patienten sagen, was darf ich ihm sagen, um ihm nicht die letzte Hoffnung und den Mut zum Leben zu zerstören, sagt der evangelische Theologe und Ethiker Ulrich Körtner.

Die Notlüge - und wie man sich darin verstricken kann

Von Notlüge spricht man, wenn sich jemand in einer unangenehmen Situation nicht anders zu helfen weiß, als eine falsche/unwahre Aussage zu machen. Wenn man lügt, weil man meint, den Anderen durch die Wahrheit - etwa über einen Seitensprung - nur unnötigerweise zu verletzen, dann sei das für ihn, meint Ulrich Körtner, bereits ein Grenzfall von Notlüge. Bei dieser Art von Lügen bestehe die Gefahr, in eine Grundhaltung der Unehrlichkeit zu geraten.

Unbedingte Aufrichtigkeit - und dafür den Freund verraten?

Einer der unbedingte Aufrichtigkeit imperativ einforderte war der 1724 in Königsberg geborene Philosoph Immanuel Kant. Er formulierte: "Wahrhaftigkeit in Aussagen, die man nicht umgehen kann, ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder einem anderen daraus auch noch so großer Schaden erwachsen."

Kant sei in seiner ethischen Auffassung von einem starken Rigorismus beseelt gewesen, der die Pflicht die Wahrheit zu sagen über alles Andere stelle, sagt der Wiener Philosoph Peter Kampits. Dabei habe Kant in der Lüge nicht nur die Schädigung des anderen Menschen als Einzelperson, sondern ein Vergehen gegen die Menschheit gesehen. Kant habe in diesem Gebot auf jene Lügen, die man aus dem Kontext heraus interpretieren müsse (Notlügen), vergessen, sagt Peter Kampits.

Im Gegensatz zu Immanuel Kant meinte Arthur Schopenhauer, dass nur die differenzierte Beurteilung der Lüge "den schreienden Widerspruch zwischen der Moral, die gelehrt, und der, die täglich, selbst von den Redlichsten und besten, ausgeübt wird", beseitige. So wie allgemein ein Recht, sich mit Gewalt gegen Gewalt zur Wehr zu setzen anerkannt wird, so erkennt Schopenhauer ein Recht zur Lüge an, denn man brauche niemandem, "der unbefugt in meine Privatsphäre spähe" Rede und Antwort zu stehen.

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Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag 23. April bis Donnerstag, 26. April 2007, 9:05 Uhr