Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film

Die Kunst des Surrealismus

Wer sich heute umfassend über den Surrealismus informieren will, der wird sich schwer tun. Nun gibt es Abhilfe: Uwe Schneede hat ein Buch herausgebracht, das alle Aspekte surrealistischen Kunstschaffens beleuchtet: bildende Kunst, Film und Literatur.

Uwe Schneede - Kunstprofessor, ehemaliger Direktor der Hamburger Kunsthalle und ausgewiesener Kenner der Materie - hat ein Buch herausgebracht, das alle Aspekte surrealistischen Kunstschaffens beleuchtet: Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film. Ausgangspunkt dabei ist die Erfahrung des Ersten Weltkrieges und die Nachkriegsordnung.

Alles schien in Frage gestellt: die Autorität des Staates und der Politiker, die Moral des Bürgertums, die Unabhängigkeit der Wissenschaft, die Geltung der Religion, der Glaube an den Fortschritt, das Geschäftemachen, selbst die Integrität eines beträchtlichen Teils der Intellektuellen.

Historisch exakt

Schneede unterschlägt bei seinen Ausführungen zweierlei. Schon der Dadaismus mit seinen radikalen Kunstaktionen revoltierte gegen die bürgerliche Weltanschauung und versuchte sich literarisch zum Teil in automatischen Schreibverfahren. Anders als Schneede behauptet, hätte ohne Dada der Surrealismus so nicht entstehen können. Und die spätere Hinwendung so mancher Surrealisten zum Kommunismus im Angesicht des herannahenden Faschismus tut Schneede ein wenig zu stark als intellektuelles Kavaliersdelikt ab.

Diese Kritikpunkte bedeuten aber keineswegs, dass Schneede mit seinem Versuch einer umfassenden Darstellung des Surrealismus gescheitert ist. Das Gegenteil ist der Fall. Historisch exakt geht der Autor von der Gruppenbildung Anfang der 1920er Jahre aus. Er beschreibt ohne Beschönigung die Führungsrolle André Bretons, der zum Teil mit harter Hand die äußerst auf Individualität bedachten Mitglieder der Gruppe bei der Stange hielt. Und dann erläutert Schneede Kapitel für Kapitel exakt die Entwicklung surrealistischer Kunstpraxis: Ausgehend von Literatur und Malerei kamen neue Ausdrucksformen dazu, vor allem die Fotografie und der Film.

Das Wunderbare

Der Kunstausdruck des Surrealismus zentriert sich um einen Schlüsselbegriff. Dies ist aber nun nicht direkt der Traum oder das Unbewusste, sondern, wie Schneede zu Recht schreibt, "le merveilleux", "das Wunderbare". Die Erfahrung des Wunderbaren findet in der Realität statt. Es ist die Überhöhung des Realen durch das Unerwartete: Es sind Sätze wie die von Pierre Reverdy: "Die Welt kehrt zurück in eine Tasche", es sind Objekte wie "Der surrealistische Tisch" von Alberto Giacometti, wo an einem kleinen Holztisch eine Schneiderpuppe ohne Beine Platz nimmt, es sind die vielen Tafelbilder von Salvador Dalí, Max Ernst oder René Magritte, in denen die Wirklichkeit in alp-traumhafte Gebilde umgewandelt wird.

Die bewusste Distanz zum Wirklichen, nämlich die Entfremdung, ist die Voraussetzung für jene Erfahrung des Wunderbaren, die tatsächlich alle surrealistische Bildproduktionen durchziehen wird, sei es in der Malerei oder in der Dichtung, sei es in der Fotografie oder im Film. Die Erfahrbarkeit des Wunderbaren ist der Urgrund der Surrealität.

Heute vergessene Mitstreiter

Dieses "Wunderbare" ließ sich sowohl in der Dichtung als auch in der bildenden Kunst darstellen. Nur waren und sind die Bilder in der Malerei, im Kunstfoto und im Film für den Betrachter leichter entschlüsselbar als die Metaphern in der Literatur. Die surrealistischen Filme von Luis Bunuel und Salvador Dalí wie "Ein andalusischer Hund" oder "Das goldene Zeitalter" gehören heute zur Filmgeschichte. Anders ist dies beim surrealistischen Kunstfoto, bei dem fast ausschließlich die Beiträge von Man Ray internationale Bekanntheit erlangten.

Man erfährt in Schneedes Surrealismus-Buch sehr viel von Mitstreitern der Bewegung, über die man heute zu Unrecht wenig weiß. Zu ihnen gehört auch der österreichische Maler Wolfgang Paalen. Seine zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit pendelnden Tafelbilder und seine vielfältigen Materialexperimente machten Paalen zu einem wichtigen Vertreter der surrealistischen bildenden Kunst.

Zweiter Weltkrieg markiert Ende

Uwe Schneedes Buch "Die Kunst des Surrealismsus" endet mit der großen Surrealistenausstellung in Paris Anfang 1938. Es ist auch das Jahr des so genannten "Anschlusses" Österreichs an Hitler-Deutschland. Was dann folgte, war der Krieg. Viele Surrealisten gingen ins Exil, manche von ihnen schlossen sich der Résistance an. Nach 1945 gab es zwar auch noch eine surrealistische Gruppe unter der Führung von André Breton, aber die große Zeit war endgültig vorbei.

Geblieben vom Surrealismus sind wunderbare Bilder, Filme, Kunstgegenstände und wunderbare Literatur. Geblieben ist der Glaube an das Wunderbare im Leben. Uwe Schneedes Buch "Die Kunst des Surrealismus" zeigt dies auf eindrucksvolle Weise.

Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr

Buch-Tipp
Uwe M. Schneede, "Die Kunst des Surrealismus. Malerei, Skulptur, Dichtung, Fotografie, Film", Verlag C . H. Beck, 2006, ISBN 978-3406546839