Die Gesellschaft auf Erfolgskurs bringen

Der Kitt der Gesellschaft

Kennen Sie fünf bis neun Personen, die Sie bei einem Notfall in der Nacht anrufen könnten? Und sind Sie ehrenamtlich oder in Vereinen aktiv? Wenn Sie beide Fragen mit einem "Ja" beantworten können, nützt das der Gesundheit und der Gesellschaft.

Aktuelle Studien aus Natur- und Sozialwissenschaften besagen, dass die Erfahrung von funktionierenden zwischenmenschlichen Beziehungen, von Gemeinschaft und Solidarität uns Menschen gesund und glücklich macht. So haben etwa Neurologen und Psychiater wie Joachim Bauer vom Universitätsklinikum Freiburg in der Vergangenheit wiederholt jene Gehirnregionen untersucht, die für Lebensfreude, Vitalität und Motivation zuständig sind. "Vor allem im Mittelhirn liegen hoch spezialisierte Nervenzellen, die bei sozialen Stimuli Botenstoffe - etwa Dopamin oder Oxytocin - ausschütten. Diese stärken unser Immunsystem und steigern unser Glücksempfinden."

Breite epidemiologische Studien zeigen zudem, dass bei sozialer Ausgrenzung die Gefahr von Herz-Kreislauf-Erkrankungen steigt. Neuerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass Einsamkeit und Demenzerkrankungen wie Alzheimer korrelieren.

Sozialkapital

Der Zusammenhang zwischen Gesundheit und sozialer Vernetztheit ist für Joachim Bauer evolutionär begründet: "Der Mensch konnte zu Urzeiten in der Gruppe leichter überleben als alleine. Die Natur hat uns als soziale Wesen konstruiert."

Sozialkapital, das ist ein Begriff, der in den 1990er Jahren in den Sozialwissenschaften populär geworden ist. Er geht auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu zurück. Dieser verstand unter Sozialkapital eine persönliche Ressource, die Individuen jede Menge Vorteile bringt - vorausgesetzt sie sind in einem ausreichenden Maß in - meist elitäre - soziale Netzwerke eingebettet.

Zu den Vorteilen, die sich daraus ergeben, zählte Bourdieu breite gesellschaftliche Anerkennung und Hilfsleistungen, die Vermittlung von Wissen, das Finden von Arbeits- oder Ausbildungsplätzen und das Vorrücken in zentrale Positionen auf wirtschaftlicher und politischer Ebene. Heute wird soziales Kapital zunehmend als Merkmal von Gemeinschaften begriffen - die Basis davon bilden vertrauensvolle Beziehungen unter den Gemeinschaftsmitgliedern.

Wichtige Basis für Sozietäten

Vertrauensvolle soziale Beziehungen, sind jedoch nicht nur für Individuen von Bedeutung, sondern auch für Sozietäten. Um deren Lebensqualität und ökonomischen Wohlstand steht es nämlich umso besser, je stärker soziale Netzwerke und das gegenseitige Vertrauen innerhalb der Gruppe ausgeprägt sind.

"Diese Personengruppe kann eine Kleinfamilie ebenso sein, wie eine Mietergemeinschaft oder die Gesamtbevölkerung eines Landes, " sagt die Soziologin Angelika Hagen. Sie hat kürzlich eine breit angelegte Studie über soziales Kapital in Vorarlberg abgeschlossen und betrachtet soziales Kapital als den gesellschaftspolitischen Ansatz, mit dem der zunehmenden Vereinsamung, Individualisierung und Entsolidarisierung entgegenzutreten ist.

Je mehr Gesangsvereine, desto besser

Ein Vorreiter dieses modernen Verständnisses von Sozialkapital ist der Soziologe und Politikwissenschaftler Robert Putnam von der Harvard University. Seine Anfang der 1990er Jahre formulierte These lautete, dass sich ausreichend Sozialkapital fördernd auf die Lebensqualität großer Gemeinschaften auswirkt.

Der US-amerikanische Wissenschaftler hat mit seinen Vermutungen Recht behalten. "Robert Putnam konnte beweisen, dass die Leistungsfähigkeit von Regionen davon abhängig ist, wie stark soziales Vertrauen, gemeinschaftliche Normen bzw. Werte und interpersonale Netzwerke innerhalb der dort ansässigen Bevölkerung ausgeprägt sind," sagt der Politologe Manfred Hellrigl vom Büro für Zukunftsfragen der Vorarlberger Landesregierung. Putnam hat bei Studien in Italien herausgefunden, dass man die politische und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit an der Zahl der Mitglieder von Gesangsvereinen ablesen kann.

Von der Blaskapelle bis zur Altenpflege

Was bürgerschaftliches Engagement in Österreich betrifft, sind die Vorarlberger am aktivsten. Im westlichsten Bundesland Österreichs ist auch das politische Interesse, dieses Engagement zu fördern und zu unterstützen, groß. "In Vorarlberg engagierten sich weit über 50 Prozent der Bevölkerung - sei es im Ehrenamt, in Vereinen, oder in der Nachbarschaftshilfe. Umgerechnet auf Vollzeitarbeitsplätze sind das zwischen 15.000 und 30.000 Stellen. In Vorarlberg gibt es gar kein Industrieunternehmen, das so viele Personen beschäftigt."

Allerdings häufen sich seit einigen Jahren die Zeichen dafür, dass in der Bevölkerung die Bereitschaft sich sozial zu Engagieren abnimmt. So hat eine kürzlich durchgeführte Befragung ergeben, dass immer mehr Österreicher und Österreicherinnen "soziales Engagement" als unbeliebteste Freizeitaktivität bezeichnen. Top sind hingegen das Fernsehen, Radiohören und Zeitungslesen, das Treffen von Verwandten und Freunden, gemeinsames Faulenzen, sowie Essen und Einkaufen gehen.

Buch-Tipps
Joachim Bauer, "Das Gedächtnis unseres Körpers. Wie Beziehungen und Lebensstile unsere Gene steuern", Taschenbuch Piper Verlag, 2004

Joachim Bauer, "Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren", Hoffmann und Campe, 2006

Ernst Gehmacher, (Hg.), "Sozialkapital. Neue Zugänge zu gesellschaftlichen Kräften". Mandelbaum Verlag. Wien, 2006

Links
Umweltnet.at - Basisinformationen zum Thema Sozialkapital vom Lebensministerium
socialcapitlagateway.org - Internationales Portal zum Thema Sozialkapital