Amartya Sen reagiert auf Samuel P. Huntington

Die Identitätsfalle

In den 1990ern veröffentlichte Samuel P. Huntington sein Buch vom "Kampf der Kulturen". 14 Jahre später publiziert Amartya Sen eine Entgegnung. Für Sen liegt der grundlegende Fehler in der Definition von Identität, die eben nicht vorbestimmt sei.

Im Jahr 1993 veröffentlichte der Harvard-Professor Samuel P. Huntington einen Artikel in der Zeitschrift "Foreign Affairs", der sich mit der Frage beschäftigte, wie globale politische Konflikte nach dem Ende des Kommunismus aussehen könnten. Die These des Professors lautete: Wenn es keine gegensätzlichen Ideologien mehr gibt, werden sich die kulturellen Gegensätze verstärken. Wobei er den Begriff "Kultur" mehr oder weniger mit "Religion" gleichsetzte. Huntington zielte in erster Linie auf den Gegensatz zwischen Christentum und Islam ab.

Er sprach vom "Clash of Civilisations", also von Zusammenprall der Kulturen. Das Buch, das auf den Artikel folgte und das in den 1990er Jahren ein Weltbestseller wurde, hieß zwar auch "Clash of Civilisations", wurde in der deutschen Ausgabe allerdings zum "Kampf der Kulturen". Der Harvard-Professor Amartya Sen nun reagiert auf Huntingtons in der Zwischenzeit schon mehrfach widerlegte Thesen mit einem Buch, in dem er seinem Kollegen unterstellt, er habe gar von einem "Krieg der Kulturen" gesprochen.

Freund-Feind-Schema funktioniert wieder

In den 14 Jahren seit Huntingtons Thesen ist der islamistische Terror in der Tat zu einem globalen Problem geworden, man könnte also meinen, wir wären mitten drin im Kampf beziehungsweise Krieg der Kulturen. Obwohl Amartya Sen mit allem Nachdruck darauf hinweist, dass wir das eben nicht sind, ist die öffentliche Wahrnehmung eine andere. Dafür, ist Sen wie viele andere Huntington-Kritiker überzeugt, ist eben Huntington ganz wesentlich verantwortlich

Seit den Terroranschlägen in den USA im Jahr 2001 ist das dichotome Denken, das bereits die Grundlage für den Kalten Krieg war, wiederhergestellt. Das Freund-Feind-Schema funktioniert nun auf der Ebene der Identifizierung mit christlich-westlichen oder islamisch-östlichen Werten, Fortschritt oder Rückschritt, Demokratie oder Diktatur.

Integrationspolitische Irrwege

Dieses Schema hat auch dazu geführt, dass ein ehemals positiv besetzter Begriff wie "Multikulturalismus" in Europa und den USA vor allem von konservativer Seite mittlerweile als integrationspolitischer Irrweg begriffen wird.

In Großbritannien hat eine verfehlte Anschauung darüber, was eine multiethnische Gesellschaft zu tun hat, dazu geführt, dass neben den schon bestehenden staatlich geförderten christlichen Schulen staatlich finanzierte Muslim-, Hindu- und Sikhschulen entstanden sind, und kleine Kinder werden, lange bevor sie über unterschiedliche Identifikationssysteme, die möglicherweise um ihre Aufmerksamkeit konkurrieren, vernünftig urteilen können, dem ausschließlichen Einfluss bestimmter Zugehörigkeiten ausgesetzt.

Falsche Definition von Identität

Für Sen liegt der grundlegende Fehler in der Definition von Identität. Eine solche ist nämlich nicht vorbestimmt, etwa dadurch, dass jemand in Bagdad zur Welt kommt, ein anderer in London und ein Dritter in Kalkutta. Niemand, so Sen, ist ausschließlich Moslem, Christ oder Hindu.

Im normalen Leben verstehen wir uns als Mitglieder einer Vielzahl von Gruppen, denen allen wir angehören. Staatsangehörigkeit, Wohnort, geografische Herkunft, Geschlecht, Klassenzugehörigkeit, politische Ansichten, Beruf, Arbeit, Essgewohnheiten, sportliche Interessen, Musikgeschmack, soziale Engagements – das alles macht uns zu Mitgliedern einer Vielzahl von Gruppen.

Keine geschlossenen Kulturkreise

Wenn das so ist, dann stimmt die Zuordnung zu Kulturkreisen nicht, die Huntington in seinem Buch vorgenommen hat und die in konservativen Kreisen auf große Zustimmung gestoßen ist. Da gibt es den zivilisierten Westen mit Nordamerika, den EU-Staaten und Australien, den islamischen Kulturkreis, den hinduistischen, japanischen, südamerikanischen, afrikanischen und slawisch-orthodoxen. Diese Kulturkreise grenzen sich scharf voneinander ab, reiben sich aneinander, suchen die Auseinandersetzung und bewegen sich frei nach Oswald Spengler in einem dauernden Auf und Ab zwischen Dominanz und Niedergang.

Sen legt Wert darauf, dass diese geschlossenen Kulturkreise nie existiert haben, dass im Lauf der Geschichte ein ständiger Austausch von Ideen vonstatten gegangen ist. Überhaupt: Die Konflikte zwischen dem Westen und Asien, Afrika oder Lateinamerika haben nichts mit kulturellen Unterschieden zu tun, sondern in erster Linie mit einer Weltordnung, die immer noch im Geiste der Kolonialisierung vorgenommen wird. Wobei heutzutage die global agierenden Konzerne die Armeen des 18. und 19. Jahrhunderts ersetzt haben.

Verteilung und Umverteilung

Der Kampf beziehungsweise Krieg der Kulturen, das haben in den letzten Jahren schon viele Autoren nachgewiesen, ist vor allem eine pompöse Inszenierung, um zu verschleiern, worum es im Grunde immer geht: um die Kontrolle von Märkten, um Verteilung und Umverteilung, um Einflussgebiete und am Ende um Profite.

In diesem Zusammenhang ist es viel spannender, dass der Kongress in Washington nun die Umverteilung öffentlicher Gelder zugunsten privater Konzerne wie Halliburton im Zuge des Irakkrieges untersuchen will, als dass weiterhin über scheinbar unüberbrückbare kulturelle Unterschiede diskutiert wird.

Hör-Tipp
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Buch-Tipp
Amartya Sen, "Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt", C. H. Beck Verlag, ISBN 978-3406558122