Paul Nolte, Historiker
Wo beginnt die Unterschicht?
Der deutsche Historiker Paul Nolte erforscht Begriffe wie "Prekariat" oder "neue Unterschicht" und deren Auswirkungen: Globalisierungsbedingter rapider Umbau von Gesellschaften? Das Verschwinden des Bürgertums? Angst vor dem Absturz?
8. April 2017, 21:58
Paul Nolte
Michael Kerbler: Keiner mag den Begriff, alle reden über ihn - "Unterschicht". Oder wie Sie es in Ihrem letzten Buch genannt haben: die "neue Unterschicht". Was verstehen Sie darunter?
Paul Nolte: Also zur neuen Unterschicht gehört ganz klar Armut dazu, auch in dem Sinne, wie wir es bis jetzt verstanden haben: materielle Armut, also das Fehlen von Geld, vor allem das, was man sich aus eigener Erwerbstätigkeit verdient. Insofern hat "neue Unterschicht" sehr viel damit zu tun, was wir etwas abstrakt "Transfer-Abhängigkeit" nennen, also Menschen, die von staatlichen Transfer-Unterstützungsleistungen, Sozialhilfe und anderen Formen der Unterstützung abhängig - und zwar dauerhaft abhängig - sind.
Dann kommen andere Sachen dazu. Wir haben gelernt, dass materielle Armut alleine nicht ausreicht, um von einer Unterschicht sprechen zu können, dass es viele Risikofaktoren gibt, viele typische Elemente, die dazukommen. Da spielt Bildung eine wesentliche Rolle. In letzter Zeit diskutieren wir über fehlende Bildung, fehlende Qualifikationen. In Deutschland reden wir jetzt viel über Jugendliche, die keinen Schulabschluss, also noch nicht einmal den niedrigsten nach neun Jahren Schule schaffen. Und wir wissen eben, dass diese Jugendlichen dann eine extrem hohe Wahrscheinlichkeit haben, keine erfolgreiche berufliche Karriere zu machen - worunter nicht der Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär zu verstehen ist, sondern überhaupt die Chance, einen geregelten Beruf zu ergreifen, eine Berufsausbildung zu machen.
Familie und soziale Beziehungen ist neben Geld und Bildung ein dritter wesentlicher Risikofaktor. Ein Netzwerk von sozialen Beziehungen ist für die meisten Menschen viel wichtiger für eine Struktur, für das Oben-Schwimmen im eigenen Leben, als man sich häufig deutlich macht. Ein fehlendes soziales Netzwerk, man könnte auch ganz platt sagen soziale Vereinsamung, ist auch ein Faktor diese "neuen Unterschicht".
Sie haben auch von kulturellen Unterschieden gesprochen. Das war ein Punkt, warum Sie heftig attackiert worden sind. Es hat sich dieses Wort im Diskurs bis zum "Unterschick" gedreht, weil damit gemeint war, Sie würden diese Gruppe kulturell so beschreiben: "übergewichtige Plastikjogginganzugträger mit Tätowierung, die Billigbier und Limo vor'm Unterschichtfernseher trinken, mit Kindern namens Kevin oder Jacqueline und mit Unterschichthunden (Pitbull) in die Schnellfresse geschickt werden, weil zu Hause schon lang nicht mehr gekocht wird."
Das ist eine sehr zugespitzte Sicht der Dinge, aber ich würde - auch gegen Kritik - an einem Kern dieses Bildes festhalten, auch um die Leute wachzurütteln und Dinge klar auszusprechen und auch einmal auf den Begriff zu bringen. Vielleicht mit zu sehr abgeplatteten Bildern, das gebe ich gerne zu, die aber im Grunde unbestritten sind - und die wir dann wieder, etwas verklausuliert villeicht, natürlich wissen und diskutieren und die durch immer mehr empirische Befunde, durch Forschungen und Untersuchungen erhärtet worden sind. Und das fängt halt mit so nebensächlichen Dingen an - Sie haben es gerade angesprochen - wie eine spezifische Haustierkultur. Das wissen wir aus Untersuchungen ja tatsächlich: Inzwischen leisten sich Angehörige von Unterschichten oder Geringverdienern mehr Haustiere und Hunde und Katzen als das in den Mittelschichten der Fall ist.
Ernster wird es zum Beispiel beim Medienkonsum. Es ist ein abgeplattetes Bild mit dem Unterschichtenfernsehen und dass da die Glotze immer läuft. Aber andererseits wissen wir: Genau das ist der Fall. Der Fernsehkonsum in Stunden und Minuten gemessen ist sehr ... ja, "schichtspezifisch". So darf man das dann sagen!
Hör-Tipp
Im Gespräch, Donnerstag, 22. Jänner 2007, 21:01 Uhr
Mehr dazu in oe1.ORF.at
CD-Tipp
"Im Gespräch Vol. 7", ORF-CD, erhältlich im ORF Shop