Frankreichs Atomindustrie und deren Folgen

Das tägliche Leben mit dem Atom

Die Halbinsel Contentin ist das Herz der französischen Atomindustrie: Zwei Reaktoren, eine Wiederaufbereitungsanlage, ein Atommülllager, eine Atom-U-Boot-Fabrik und ein neuer Meiler in Bau. Wie lebt es sich in dieser Umgebung? Ein Lokalaugenschein.

Stimmen aus der Bevölkerung

Angesichts knapper werdenden Ressourcen, politischer Spannungen in Erdöl produzierenden Regionen, Krisen bei der Gasversorgung und Treibhauseffekt erlebt die Atomenergie in den letzten Jahren weltweit eine Art Renaissance.

In Frankreich besitzt die zivile Nutzung der Atomenergie einen Stellenwert , wie in keinem anderen Land der Erde: 58 Atomreaktoren liefern 80 Prozent des französischen Strombedarfs , wobei sogar noch 20 Prozent der Atomstromproduktion in europäische Nachbarländer exportiert werden, zum Beispiel nach Großbritannien, Italien und in die Schweiz.

Die Halbinsel Cotentin ist das Herz der französischen Atomindustrie. Dort befinden sich zwei Reaktoren, eine Wiederaufbereitungsanlage, ein Atommülllager, eine Atom-U-Boot-Fabrik und ein neuer Meiler in Bau. Wie lebt es sich in dieser Umgebung?

Die größte Wiederaufbereitungsanlage der Welt

Auf der Halbinsel Cotentin ist die Konzentration vom Atomanlagen so groß wie nirgendwo auf der Welt. Nirgendwo sind so viele Arbeitsplätze - nämlich rund 10.000 - von der Atomindustrie abhängig.

In La Hague, nur einen Steinwurf von den Kanalinseln Gersey und Guernesy entfernt - steht die größte Wiederaufarbeitungsanlage der Welt , wo jährlich über 1.000 Tonnen Brennelemente - zur Zeit überwiegend aus französischen Atomkraftwerken - wieder aufgearbeitet werden.

Die Anlage wurde Anfang der 1960er Jahre noch unter Schirmherrschaft der französischen Armee installiert. Man brauchte das Plutonium aus der Wiederaufarbeitung für die Bombe. Fast täglich werden verbrauchte oder wiederaufgearbeitete Brennstäbe auf über hundert Tonnen schweren Spezialtransportern über Landstraße in diese entfernte, ländliche Gegend transportiert - und von Zeit zu Zeit, werden hochradioaktive Abfälle, die bei der Wiederaufarbeitung anfallen, in die Herkunftsländer wie Japan oder Deutschland zurückgeschickt.

Radioaktive Abfälle aus drei Jahrzehnten

Direkt neben der Wiederaufarbeitungsanlage ist ein Atommüllager mit 500.000 Kubikmetern radioaktiven Abfällen aus drei Jahrzehnten, das seit Anfang der 1990er Jahre geschlossen ist, wo aber niemand genau zu sagen weiß, was es eigentlich enthält.

20 Kilometer östlich davon, in Cherbourg, werden Frankreichs atomgetriebene Unterseeboote gebaut ; 15 Kilometer südlich der Wiederaufarbeitungsanlage, in Flamanville, arbeiten seit 20 Jahren zwei 1.300 MW-Reaktoren des AKWs Flamanville, und eben dort soll gegen 2012 auch der erste so genannte Atomreaktor der neuen Generation in Betrieb gehen, der europäische Druckwasserreaktor EPR vom französischen Atomkonzern AREVA und von Siemens gemeinsam entwickelt.

Befürworter und Gegner

Letztes Jahr zu Ostern haben in Flamanville zwar 30.000 Menschen gegen den Bau des europäischen Druckwasserreaktors demonstriert, die Politiker vor Ort aber - ob links oder rechts - hoffen aber auf den EPR. Das Argument: Arbeitsplätze. Es ist eine Gegend, wo die Gemeinden vom Steueraufkommen der Atomindustrie regelrecht ûberschwemmt werden und noch im letzten Dorf die Straßenbeleuchtung aus Kupfer ist, wo es mehr Fußballfelder und Sporteinrichtungen gibt, als Sportler, die sie nûtzen könnten.

Man habe hier Bedürfnisse geschaffen, die es früher nicht gegeben habe. Die Atomwirtschaft sei hier überall präsent, meint Nathalie Geismar vom Verein der "Wütenden Mütter". Die immer weitere Ausbreitung der Atomanlagen sei wirklich unerträglich. Dies bestätigt auch Didier Anger, ehemaliger Europa-Abgeordneter der Grünen und ein Jahrzehnt lang Abgeordneter im Regionalparlament der Normandie: "Frankreich braucht diesen neuen Reaktor nicht, aber der Atomkonzern Areva, der auch die Wiederaufarbeitungsanlage betreibt, hat das Patent für den EPR und möchte ihn an möglichst viele Länder verkaufen."

Was sagen die Einheimischen?

Das Verhältnis der hier lebenden Menschen zur Quelle ihres relativen Wohlstands - den verschiedenen atomaren Einrichtungen - ist zwiespältig. Hier, wo rund 10.000 Arbeitsplätze von der Atomindustrie abhängig sind, gehen die Meinungen auseinander. Die Gegner reden sich ein, sie betrieben zumindest Schadensbegrenzung, die Befürworter strotzen vor Selbstsicherheit und wissen, dass ein Ausstieg aus der Atomenergie in Frankreich so schnell kein Thema sein wird.

Man müsse sich doch irgendwann mit den eigenen Widersprüchen auseinandersetzen. Denn man könne nicht den Treibhauseffekt bekämpfen wollen und - ohne jede Einschränkung - auch gegen die Atomenergie sein: Immer wieder hört man solche Sätze, die zum Ausdruck bringen, in den Köpfen vieler Menschen hier ist die Atomindustrie eine Industrie wie jede andere. Didier Anger bringt es auf den Punkt: "Die größte Angst der Menschen hier ist die vor der Arbeitslosigkeit, dann kommt die Angst vor der Atomkraft!"

Hör-Tipp
Journal-Panorama, Mittwoch, 17. Jänner 2007, 18:25 Uhr

Link
Wikipedia - La Hague