"The New Tastemakers"

Pitchforkmedia

Pitchforkmedia.com heißt jene Website aus Chicago, die die Verhältnisse des amerikanischen Popjournalismus auf den Kopf gestellt hat. Die sehr pointiert formulierten Kritiken sind gefürchtet unter Musikern, Plattenfirmen und Journalistenkollegen.

Jeden Morgen werden fünf Urteile veröffentlicht. Sie können über Gedeih und Verderb von Karrieren entscheiden. Es sind fünf Rezensionen zu neu erscheinenden Popalben, die fünf Mal pro Woche nach dem Frühstück auf Pitchforkmedia.com online gehen. Die sehr direkt und pointiert formulierten Kritiken der Redaktion mit Sitz in Chicago sind gefürchtet unter Musikern, Plattenfirmen-Verantwortlichen und Journalistenkollegen. Pitchfork - also "Mistgabel" - ist die programmatische Kurzbezeichnung der Site.

Bewertet werden die Alben auf einer Skala zwischen null und zehn. Alles unter sieben Punkte bedeutet "Daumen nach unten". Alles darüber jedoch garantiert jungen Bands einen Plattenvertrag bei einer größeren Firma. Durchwegs gute Noten erhielten Formationen wie The Arcade Fire, Clap Your Hands Say Yeah und Antony And The Johnsons. Ihren Erfolg in den USA führen Experten nicht zuletzt auf die guten Rezensionen durch Pitchforkmedia.com zurück. Die veröffentlichenden Plattenfirmen sprachen jedenfalls von einer wahren Bestellflut, die nach der Publikation der Kritiken über sie hereingebrochen wäre.

Pitchfork will Orientierung bieten

Die 50 Pitchfork-Autorinnen und -Autoren stammen vorwiegend aus dem studentischen Milieu und nehmen ihren Job sehr ernst. Sie sehen sich als eine Art Stiftung Warentest, die den Musikfans in Zeiten immer unübersichtlicher werdenden Veröffentlichungswellen Orientierung bieten soll.

1,3 Millionen User besuchen das Onlinemagazin pro Monat. In den USA nennt man Pitchforkmedia.com mittlerweile das neue "Rolling Stone Magazine". Die von Jann Wenner 1967 in San Francisco gegründete Zeitschrift gilt als Mutter aller engagierten Popmagazine und brachte Autoren wie den "Rock & Roll Writer" Lester Bangs und Greil Marcus hervor. Doch vor allem den jungen Musikfans gelten sowohl die Aufmachung als auch die Kritiken des "Rolling Stone" mittlerweile als zu behäbig und altbacken. Die Auflagenzahlen des Magazins sind weltweit rückläufig und konnten zuletzt nur mit einer Neuausrichtung hin zu journalistischen Kernthemen wie Gesellschaft und Politik wieder gesteigert werden.

Probehören möglich

Der entscheidende Vorteil von Pitchfork gegenüber der Printkonkurrenz: Die besprochene Musik kann auf der Webpage in Form von MP3s sofort probegehört werden und wird mit Echtzeit-News und Tratsch über die Stars der Szene abgerundet. Und natürlich ist das Angebot von Pitchforkmedia.com gratis.

Pitchforkmedia.com existiert zwar auch schon seit über zehn Jahren, doch erst der neu erwachte Boom von Independent-Gitarrenrock und der Hype um MP3-Blogs und Online-Journalismus hat die Site in den letzten beiden Jahren so richtig populär gemacht - und das weltweit. Der Erfolg ermöglichte dem Pitchfork-Gründer Ryan Schreiber die Anstellung einiger Redakteure, die vorher ihre Kritiken zum Großteil ohne Rechnungslegung einreichten.

Unabhängigkeit bleibt bestehen

Übernahmeangebote seitens der Medien- und Popindustrie wurden bis jetzt beharrlich ausgeschlagen. Großzügig geschaltete Bannerwerbung von Plattenfirmen garantiert keine freundliche Behandlung von labeleigenen Bands. Man will unabhängig bleiben - eine eher selten gewordenen Haltung junger Internetunternehmer.

Dass Pitchforkmedia.com die neuen Geschmacksmacher in Sachen Rockmusik sind, stellt niemand mehr ernsthaft in Frage. Unübersehbar ist dabei aber auch, dass die alten Hierarchien des Rockjournalismus einfach durch neue ersetzt worden sind. Bei einer vernichtenden Plattenkritik ist es schließlich egal, ob diese auf echtem Papier steht, oder als Posting durch das World Wide Web geistert.

Mehr zu früheren Ausgaben der Netzkultur in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Norbert Elias, "Über die Zeit", aus dem Englischen übersetzt von Holger Fliessbach und Michael Schröter, Band 9 der "Gesammelten Schriften", Suhrkamp-Verlag, ISBN 3518283561

CD-Tipps
Samuel Barber, "Adagio für Streicher op.11", Boston Symphony Orchestra unter Charles Munch, RCA 09026614242

William Shatner, "Has been", Shout! Factory DK 30349

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