Kolumne von Eugen Freund

Der Kompromisskanzler

Viel Kritik in den eigenen Reihen musste sich SPÖ-Chef Alfred Gusenbauer anhören, weil er bei den Koalitionsverhandlungen zu viele Kompromisse zugelassen hat. Aber auch in der ÖVP scheint der Abgang von Finanzminister Grasser Spuren zu hinterlassen.

Erst war der Strich eine Gerade. Nach fünf Minuten krümmten sich die beiden Enden leicht nach unten. Schließlich - mittlerweile war schon gut eine Viertelstunde vergangen - glich die Linie eher einem Viertelkreis. Die Rede ist von Wolfgang Schüssels Mund. Er war nicht glücklich.

Alfred Gusenbauer stand neben ihm vor der versammelten Presse und redete und redete. Bei jeder Handbewegung erhob sich ein Blitzlichtgewitter der Fotografen.Der neue Fast-Bundeskanzler schien die Aufmerksamkeit förmlich zu genießen. Die Koalitionsverhandlungen waren beendet; alles war unter Dach und Fach.

... Gusenbauer wusste zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass viele seiner Parteifreunde das Dach gerade an jener Stelle besonders leck sahen, unter der ihr Parteichef stand. Und viele Kommentatoren (und Karikaturisten) glaubten, den frisch gebackenen Bundeskanzler wie hinter einem Röntgenschirm vor sich stehen zu sehen. Kein Kleidungsstück verhüllte die bloß gelegten Körperteile ...

Spätestens als Wolfgang Schüssel, der sich von der Rolle des Zuhörers rasch erholt hatte, die Ministerien aufzählte, die die ÖVP in Hinkunft besetzen würde, war den staunenden Beobachtern klar, dass das Bild passte: Gusenbauer war für sein Ziel, Bundeskanzler zu werden, viele Kompromisse eingegangen - nicht nur inhaltliche (siehe Studiengebühren und Eurofighter); er hatte darüber hinaus auch bei der Verteilung der Macht vor der ÖVP kapituliert. Innen-, Außen-, Wirtschafts- und Wissenschaftsministerium, alles bleibt in der Hand der von der größeren zur kleineren Regierungspartei mutierten Volkspartei.

Zu allem Überfluss stieß Gusenbauer auch jene vor den Kopf, die ihn im Wahlkampf besonders unterstützten: die Studenten. "Hospizdienst“ bot er ihnen an, so nebenbei, damit sie für sechs Euro pro Stunde die Studiengebühr zurückzahlen sollten. Niemand hatte ihm offenbar gesagt, wie viel Ausbildung, Einfühlungsvermögen und psychischer Kraft es bedarf, um Sterbende in ihrer letzte Stunde zu begleiten - von anderen Zumutungen ganz abgesehen.

Aber auch die ÖVP begann die "Neue Form des Regierens“ mit einer Krise. Nur sprach kaum jemand davon. Wie musste sich Wilhelm Molterer fühlen, als auch der letzte Versuch von Wolfgang Schüssel scheiterte, seinen "Sunny Boy" K. H. Grasser zu überreden, das Amt des Vizekanzlers zu übernehmen? Molterer war - und niemand konnte ihm das Gefühl nehmen - am Ende nur die zweite Wahl für das Amt des Finanzministers und stellvertretenden Regierungschefs.

Wolfgang Schüssel hielt es offenbar - längerfristig betrachtet - für zielführender, wenn die ÖVP von einem "Seitenblicken“ geeichten TV-Schönling in der Regierung vertreten ist und dann in die nächste Wahl geht, als von einem integren Bauernsohn aus Oberösterreich. Aber der Ex-Finanzminister und blendende Selbstverkäufer hatte schon größere Ziele im Auge (Frau, Kinder, Hunde). Und wer kann es ihm verbieten, in ein paar Jahren als "deus ex internet“ wieder in die Politik zurückzukehren?

Auch wenn der scheidende Bundeskanzler nicht all seine Ziele erreicht hat, die Linie von Mundwinkel zu Mundwinkel nähert sich immer mehr einer Geraden. Nicht auszuschließen ist, dass der Viertelkreis sogar bald einmal nach oben zeigt.

Text: Eugen Freund

P.S.: Nun, als alles vorbei ist, im letzten Moment also, zeigen auch die Grünen noch einmal auf: He, wir hätten eh eine Minderheitsregierung unterstützt, rufen sie wenige Stunden vor der Angelobung der großen Koalition. So, als hätten sie nicht schon vorher jede andere Regierungsform vermasselt!

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