Der Makel der Krankheit

Schamgefühle bei körperlicher Krankheit

Der eigene Körper ist eine Quelle von Schamgefühlen: Er ist nicht so schön und attraktiv wie man gerne hätte. Er hat Funktionen die in der Gesellschaft nicht gezeigt und gefühlt werden dürfen. Und das schlimmste ist, wenn er nicht so tut, wie er soll.

Krankheit ist in vielerlei Hinsicht beschämend. Die erste unangenehme Situation ist die Mitteilung der Diagnose. Krebs, zum Beispiel. Ein Fehler, ein Makel, eine Behinderung wird dargelegt. Der behandelnde Arzt sieht etwas im Innersten des Patienten, was dieser selbst nicht sieht oder nicht sehen wollte.

Der Arzt ist in seiner Rolle überlegen, der Patient schämt sich für die eigene Unwissenheit. Es folgt die Reaktion auf die Offenbarung: Angst, Zweifel, Entmutigung, Entsetzen, Schock. Man zeigt dem Arzt intime Emotionen, die man gerne für sich behalten möchte. Man schämt sich.

Es lässt sich nicht verbergen

Das Wissen um lebensbedrohliche Krankheiten kann traumatisierend wirken. Deshalb ziehen sich Krebspatienten oft nach der Diagnose vom gesellschaftlichen Leben zurück. Sie fühlen sich stigmatisiert, beobachtet, ausgestoßen. Ausgestoßen aus dem unbekümmerten Leben der Gesunden. Ihr Körper hat einen klar ersichtlichen Makel bekommen: den Krebs. Und für diese Unzulänglichkeit schämen sie sich.

Dazu kommen Therapien, deren Folgen auch äußerlich sichtbar werden: Chemotherapie, Strahlenbehandlung. Der plötzliche Haarausfall trägt die intimen Ursachen nach außen. Jeder Außenstehende, selbst ein Fremder, sieht die Krankheit, weiß um die Schwachstelle seines Gegenübers. Es lässt sich nicht verbergen, man wird in seiner Krankheit ertappt. Man spricht von Intimitätsscham, wenn man etwas von sich zeigt, emotional oder körperlich, was man nicht zeigen wollte.

Trifft die Krebsdiagnose einen Menschen, der schon grundsätzlich zur Scham neigt, der immer das Gefühl hat, in seiner ganzen Person fehlerhaft zu sein, fühlt er sich in dem Gefühl, unzureichend zu sein, noch bestätigt.

Der Verlust der Unabhängigkeit

Therapien schränken den Alltag ein, sind zeitaufwändig, lassen sich mit dem Berufs- und Sozialleben nicht vereinbaren. Der Körper wird schwächer, langsamer, anfälliger. Gewisse Aufgaben können nicht mehr bewältigt werden.

Besonders schwierig ist diese Situation für Menschen, die sich über ihr Handeln, ihren Erfolg, ihre Unabhängigkeit definiert haben. Plötzlich sind sie mit abnehmenden körperlichen, vielleicht auch geistigen Fähigkeiten konfrontiert. Sie können ihr Leben nicht mehr alleine schaffen, sind angewiesen auf Hilfe von anderen, verlieren ihre Unabhängigkeit. Sie schämen sich für diesen Verlust ihrer Kompetenzen. Es kommt zur Kompetenzscham.

Auf fremde Hilfe angewiesen

In vielen Fällen benötigt man Hilfe und Unterstützung in körperlichen Belangen, bei der Untersuchung, beim Waschen, beim Toilettengang. Eine intime und beschämende Situation. Wenig hilfreich sind dabei Aussagen des Pflegepersonals, wie "Sie müssen sich nicht schämen". Denn man schämt sich trotzdem für die Intimität und noch dazu für den Fehler, dass man sich schämt, obwohl man es angeblich nicht müsste.

Aus der Sicht des Pflegepersonals ist es natürlich anstrengend, den ganzen Tag mit Menschen zu tun zu haben, die sich schämen. Dennoch sollte Pflegepersonal dazu aufgerufen sein, Patienten nicht zusätzlich zu beschämen, sondern sie in ihrem Umgang mit Scham zu unterstützen. Schließlich ist nicht klar, wie lange man in der Rolle von Arzt, Pfleger oder Therapeut bleibt, bis man selbst zum Patienten wird.

Hör-Tipp
Salzburger Nachtstudio, Mittwoch, 27. Dezember 2006, 21:01 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipp
Micha Hilgers, "Scham. Gesichter eines Affekts", Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen. 2006, ISBN 3525462514