Chris Cleave im Zwiegespräch mit Osama Bin Laden

Lieber Osama

Chris Cleave ist das, was man einen Newcomer in der britischen Literaturszene nennen könnte. Vier Romane hat er bislang geschrieben, veröffentlicht wurde erst der fünfte: "Incendiary", vor kurzem unter dem Titel "Lieber Osama" auf Deutsch erschienen.

Als Autor ist der 33-Jährige Chris Cleave schwer einzuordnen. Cleave ist weder ein klassischer Romancier, noch Popautor, noch ein Vertreter neuer experimenteller Stile. "Literarischer Aktivist" trifft wohl am ehesten das, worauf es Chris Cleave in seiner Arbeit ankommt: mit Witz, Phantasie und der Freiheit der literarischen Erfindung, auf aktuelle Themen einzugehen. Das war der Ausgangspunkt für sein jüngstes Buch, "Lieber Osama", ein fiktiver Brief an den Chef der Al-Kaida, der für den Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 verantwortlich gemacht wird.

25 Millionen haben sie auf deinen Kopf ausgesetzt. Aber lass dir meinetwegen keine grauen Haare wachsen. Ich habe keine sachdienlichen Hinweise, die zu deiner Ergreifung führen können. Ich wüsste gar nicht, was ich mit den 25 Millionen anfangen sollte. Ich habe nämlich keinen mehr, für den ich sie ausgeben könnte, seit du meinen Mann und meinen Sohn in die Luft gejagt hast.

Brief einer Mutter

Cleaves literarischer Brief beschreibt die Folgen eines fiktiven Bombenanschlags auf ein Fußball-Stadion in London aus der Sicht einer unmittelbar Betroffenen: einer warmherzigen Mutter aus dem Londoner East End. Bis zum Tag des Attentats dreht sich ihr Leben in erster Linie um Fischstäbchen, die alphabetische Ordnung in der Tiefkühltruhe und die Sorge um Mann und Kind. Die beiden kommen bei dem Anschlag ums Leben. Und bringen die Erzählerin dazu, einen Brief an Osama zu schreiben.

Cleave hat seiner Erzählerin eine bewusst schlichte und einfache Sprache gegeben, um der Gewalt, mit der wir täglich in den Nachrichten konfrontiert werden, wieder eine reale und nachvollziehbare Dimension zu verleihen. Wenn man all die Bilder, die man täglich im Fernsehen sieht, vom eigenen Küchenfenster aus beobachten könnte, sagt er, würde man wesentlich beunruhigter sein. Die Gewalt, die tagtäglich auf der Welt passiert, ist zu weit weg, als dass wir das, was sie anrichtet, wirklich erfassen können. Wir wiegen uns in trügerischer Sicherheit.

Terror aus privater Perspektive

Dass er mit der schlichten und stellenweise durchaus naiven Reflexion seiner Erzählerin ein extrem vielschichtiges Problem wie den globalen Terror auf die private Perspektive einer East Londoner Hausfrau und Küchenfee reduziert, scheint den Autor nicht zu stören. Dort leben Menschen schließlich ihr Leben, sagt er. Deshalb muss man sie auch dort mit dem Tod konfrontierten. Der Tod ist als Möglichkeit weitgehend aus unserem Alltag verschwunden.

"Ich wollte mit dieser Geschichte meine Idee von Liebe beschreiben, indem ich die unendliche Leere deutlich mache, die zurückbleibt, wenn sie aus dem Leben verschwunden ist", so Cleave. "Ich verstehe die Liebe zu meinen eigenen Kindern wesentlich besser, seitdem ich dieses Buch geschrieben habe."

Ausgleich mit Humor

Chris Cleave hat die erste Fassung seiner Erzählung in nur sechs Wochen geschrieben. Sechs Wochen, in denen er kaum geschlafen und sich komplett vom Rest der Welt abgeschottet hat. Bewusst. Denn sobald er seine Augen schließen wollte, holten ihn die Alpträume wieder ein, die ihn monatelang geplagt hatten. Dem wollte, oder musste er sogar, etwas entgegensetzen. Um, wenn auch nicht unbedingt Hoffnung, so zumindest doch ein ausgleichendes Gegengewicht an Liebenswürdigkeit und Humor in die Welt zu setzen.

Angeblich haben elf deiner Männer die Bomben unter ihrem Arsenal-Trikot ins Stadion geschmuggelt. Keine Ahnung, ob das deine Absicht war, aber es ist sozusagen eine komplette Fußballmannschaft. Allerdings wusste niemand, warum du sie ausgerechnet zu Arsenal-Fans gemacht hast. Hasst Allah die Chelsea noch mehr als den Westen im Allgemeinen? Oder war es bloß Zufall? Vielleicht hast du ja eine Münze geworfen. So wie die Schiedsrichter, wenn um den Anstoß gelost wird.

"Jemand hat mal zu mir gesagt, Schriftsteller, die Leute nur zum Weinen zu bringen, sind langweilig", erzählt Cleave. "Man muss sie erst richtig lachen lassen, damit die Tränen danach Wirkung erzielen. Meine Hauptfigur tut genau das. Deshalb berührt sie uns, obwohl sie zielgerade auf den Abgrund zusteuert."

Die Doppelmoral der westlichen Welt

Die Leute sagen du bist eine Bestie, Osama, aber das glaube ich nicht. Ich hab dich in deinen Videos gesehen. Du siehst aus wie ein Gentleman, und genau das macht mir Angst. Mein Mann war auch ein Gentleman, du hättest ihn gemocht. Vielleicht hättest du mal drüber nachdenken sollen, bevor du ihn in die Luft jagst. Sie sagen, du glaubst, wenn deine Leute Unschuldige töten, tun sie ihnen im Grunde einen Gefallen. Weil Unschuldige sofort ins Paradies kommen. Also ich weiß nicht. Mein Mann hat jedenfalls nicht an Allah geglaubt. Er glaubte an seinen Sohn und an Arsenal London.

Chris Cleave sieht im Terrorismus nicht nur eine Bedrohung, denn der Auslöser dafür ist oft eine berechtigte Kritik am Zynismus und der Doppelmoral der westlichen gegenüber der nicht-westlichen Welt. Das heißt nicht, dass er mit den Ideen islamischer Extremisten übereinstimmt. Im Gegenteil, sagt er. Aber der Gewalt kann man nur dann wirkungsvoll entgegentreten, wenn man den eigenen Defiziten schonungslos ins Gesicht schaut und daran arbeitet: "Seit dem 11. September und den Anschlägen hier in London fragen alle, warum hassen sie uns? Gute Frage. Aber die Antwort, die man sich zurechtgelegt hat, ist zu einfach. Sie hassen uns nicht, weil wir in Freiheit leben."

Nach vier erfolglosen Anläufen, einen Roman zu veröffentlichen, hat Chris Clevae mit "Lieber Osama" nun den lang ersehnten Durchbruch am Buchmarkt geschafft. Der Roman wurde vielfach übersetzt, und auch die Filmrechte wurden schon verkauft. Zurzeit hat er ein neues Werk in Arbeit. Wieder ein aktuelles Thema. Die Geschichte einer Asylbewerberin. Erzählt aus fünf verschiedenen Perspektiven.

Hör-Tipp
Tonspuren, Sonntag, 17. Dezember 2006, 22:15 Uhr

Download-Tipp
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Buch-Tipp
Chris Cleave, "Lieber Osama", aus dem Englischen übersetzt von Marcus Ingendaay, Rowohlt verlag, ISBN 349800932X