Der moderne Prometheus
Frankenstein
Wer bislang zu Mary Shelleys Klassiker griff, hielt die überarbeitete Fassung von 1831 in Händen. Sie war auf Druck der Familie ihres verstorbenen Gatten stark geglättet worden. Die radikalere Urfassung aus dem Jahr 1818 liegt jetzt zum ersten Mal auf Deutsch vor.
8. April 2017, 21:58
Als Boris Karloff 1931 als das stumme Monster des Herrn Frankenstein auf der Kinoleinwand schaurig schönen Grusel verbreitete, war die größte Ikone des Schreckens geboren. Seitdem identifiziert man mit dem Namen "Frankenstein" das Monster selbst. Es erscheint in Comics, Kindercartoons, in Songtexten, Fernsehserien und selbst in Pornofilmen.
Dabei basiert der Film mit Boris Karloff gar nicht auf dem Roman vom Mary Shelley, sondern auf einer Bühnenfassung, die schon zu Lebzeiten Shelleys enorme Erfolge feierte. Erst 1994 produzierte der britische Schauspieler und Regisseur Kenneth Brannagh den Film "Mary Shelley's Frankenstein", der sich am Roman orientierte. Robert de Niro spielte - sehr überzeugend! - das nun sprechende Monster.
Shelleys Roman erschien erstmals im Jahr 1818. Wer aber bislang zum Buch griff, der hielt die überarbeitete Neuausgabe von 1831 in Händen. Denn die Urfassung von "Frankenstein" aus dem Jahr 1818 liegt jetzt zum ersten Mal auf Deutsch vor.
Doppelstrategie
Alexander Pechmann hat aber nicht nur den "Ur-Frankenstein" ins Deutsche übertragen, sondern gleichzeitig die Biografie "Mary Shelley. Leben und Werk" herausgebracht. Und diese Doppelstrategie geht voll und ganz auf!
Die unwiderstehliche Wildheit und Erhabenheit ihrer Gefühle zeigten sich in ihren Gebärden und ihren Blicken. Sie ist sanft und zart und dennoch zu glühender Empörung und Hass sehr wohl fähig.
Wer so über die Autorin schreibt, die mit Mädchennamen Mary Godwin hieß, ist der junge Dichter Percy B. Shelley. Shelley, der einer alteingesessenen englischen Adelsfamilie entstammte, verkörperte das wilde, aufbegehrende England am Anfang des 19. Jahrhunderts. Er hasste alle Konventionen, brüskierte die Oberschicht, liebte die Ausschweifung und schlug sich des öfteren auf die Seite der Unterdrückten.
Prominente Eltern
Letztere Charaktereigenschaft verband ihn durchaus mit der Familie der Autorin. Deren Mutter, Mary Wollstonecraft, war eine der ersten Frauenrechtlerinnen Englands gewesen. Und der Vater der Autorin, William Godwin, galt zu seiner Zeit als einer der wichtigsten Sozialphilosophen, der es mit der gedanklichen Radikalität Shelleys durchaus aufnehmen konnte.
Unterdrückung, Rechtlosigkeit, Armut und Einsamkeit ist das eigentliche zentrale Thema von "Frankenstein". Als das Monster, das Viktor Frankenstein aus Leichenteilen zusammensetzt und zum Leben erweckt, über seine Natur nachzudenken beginnt, erkennt es seine ausweglose Situation:
Und wer war ich? Von meiner Erschaffung und meinem Schöpfer wusste ich rein gar nichts. Aber ich wusste, dass ich weder Geld noch Freunde, noch irgendein Eigentum besaß. Zudem war ich mit einem schrecklich missgestalteten und abscheulichen Äußeren geschlagen. (...) Mein Körper war viel größer als der des Menschen. Wenn ich mich umsah, gab es weit und breit niemanden, der mir ähnlich war. War ich also ein Monster, ein Schandfleck auf Erden, vor dem alle Menschen flohen, und der von allen verstoßen wird?
Gesellschaftliche Ächtung
Frankensteins Monster ist zwar kein Mensch, aber es lernt eifrig, sich wie ein Mensch zu fühlen und wie ein Mensch zu denken. Doch jeder Versuch, sich der Gesellschaft anzunähern, um so als soziales Wesen anerkannt zu werden, scheitert kläglich. Die Menschen, einschließlich Victor Frankenstein, sehen in ihm nur das Monströse, das Abscheuliche, den Abschaum einer perversen naturwissenschaftlichen Forschung.
Das Schicksal des Monsters wirft allerdings auch seinen Schatten auf das Leben von Mary und Percy B. Shelley. Die beiden flohen im Sommer 1814 in die Schweiz, mussten aber wegen Geldmangels bald wieder die Heimreise antreten. Shelley war allerdings zu dieser Zeit verheiratet und hatte zwei Kinder. Das hielt Percy und Mary nicht ab, in wilder Ehe lebend zwei weitere Kinder in die Welt zu setzen. Und dieser Umstand war mit ein Grund, weswegen Percy Shelleys erste Frau alsbald Selbstmord beging. Percy und Mary konnten nun heiraten, aber für die Londoner Gesellschaft stand eines fest: Dieses Paar war monströs, benahm sich abscheulich, mit diesem Abschaum wollte man nichts zu tun haben.
Offene Beziehung
Die zeitweise enge Freundschaft zu dem gesellschaftlich geächteten Lord Byron festigte die Vorbehalte. Dazu kamen die vielen Liebschaften Percy Shelleys, wobei Mary zuweilen ihrem Mann in nichts nachstehen wollte. Zu Thomas Jefferson Hogg, einem engen Freund ihres Mannes, hatte sie ein besonders inniges Verhältnis. Als Percy mit den Kindern einmal kurz verreiste, schrieb Mary sogleich ihrem Liebhaber:
Du bist so ein gutes & selbstloses Wesen, dass ich Dich mehr & mehr liebe. - Übrigens, wenn Shelley im Lande ist, werden wir nie allein sein können, also ist dies vielleicht die letzte Möglichkeit unter uns zu sein, doch möchte ich Dich keinesfalls dazu überreden, etwas zu tun, was Du nicht tun solltest.
Mary Shelleys Monster wird zum rasenden Unhold, weil sein Schöpfer Victor Frankenstein ihm seine große Bitte nicht erfüllt. Wenn ihm schon die Gemeinschaft mit den Menschen verwehrt bliebe, so solle Frankenstein ihm doch ein Ebenbild, eine weibliche Gefährtin erschaffen:
Oh, Frankenstein, sei nicht allen anderen gegenüber gerecht, und tritt nur mich mit Füßen (...). Denk daran, dass ich dein Geschöpf bin. (...) Ich war gütig und gut. Nur das Elend ließ mich böse werden. Mach mich glücklich, und ich werde erneut tugendhaft sein.
Frankensteins Schatten
Doch Frankenstein graut vor der Vorstellung, dass sich dieses Monster auch noch vermehren könnte. Und so muss der Schöpfer mit ansehen, wie sein Geschöpf die gesamte Familie Frankenstein nacheinander ermordet.
Im Januar 1818 erscheint die Urfassung von Mary Shelleys Roman "Frankenstein". Im September desselben Jahres stirbt ihre Tochter, acht Monate später ihr erst geborener Sohn. Im Sommer 1822 ertrinkt Percy B. Shelley im Golf von La Spezia während einer Segeltour. "Frankenstein" hat der Autorin wahrlich kein Glück gebracht.
Soziale Kontrolle
Nach den schweren Schicksalsschlägen lebt Mary mit ihrem einzig verbliebenen Sohn, Percy Florence, in London. Und sie ist abhängig von den Geldzuwendungen der Familie Shelley, die mit Argusaugen darüber wacht, dass sie ein halbwegs bürgerliches Leben führt. Deswegen ist die Neufassung von "Frankenstein", die 1831 erscheint, weit weniger radikal als der Ur-Frankenstein. Die Sozialkritik ist stark geglättet und Victor Frankenstein, der als Naturwissenschaftler bei der Erschaffung seines Monsters auch die Magie in Einsatz bringt, hat in der Neufassung starke religiöse Anwandlungen.
Lohnende Entdeckungsreise
Doch ganz ließ sich Mary Shelley nicht unterkriegen. In seiner Biografie führt Alexander Pechmann alle Romane, Erzählungen und Essays an, die Mary Shelley noch schreiben sollte. Und da er auch den Inhalt jedes größeren Textes nacherzählt, kann der Leser erfassen, was für eine literarische Persönlichkeit Mary Shelley gewesen ist. Denn die meisten Texte der Autorin sind bislang ins Deutsch noch gar nicht übersetzt worden. Alexander Pechmanns Übersetzung des Ur-"Frankensteins" und seine Biografie über Mary Shelley sind wahrlich eine Entdeckungsreise, die sich niemand entgehen lassen sollte.
Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 3. Dezember 2006, 18:15 Uhr
Download-Tipp
Ö1 Club-DownloadabonenntInnen können die Sendung "Ex libris" nach der Ausstrahlung 30 Tage lang im Download-Bereich herunterladen.
Buch-Tipps
Alexander Pechmann, "Mary Shelley. Leben und Werk", Artemis & Winkler 2006, ISBN 3538072396
Mary Shelley, "Frankenstein. Die Urfassung", aus dem Englischen von Alexander Pechmann, Artemis & Winkler 2006, ISBN 3538063176